Michel Wieviorka: Kulturelle Differenzen und kollektive Identitäten |
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Wir gestalten unsere Identität selbst und benutzen dazu Versatzstücke aus dem Baukasten verschiedener Kulturen, der eigenen und solcher, die uns auf irgendeine Weise angenehm oder nützlich sind – sei es in Bezug auf Lebensstil, Mode, Ideologie oder Religion. Diese Wählbarkeit von Identität kennzeichnet unsere Zeit und »die westliche Zivilisation« generell, und stellt keine elitäre Ausnahmebeschäftigung dar. Auf diese Analyse läuft die differenzierte Untersuchung zu kulturellen Differenzen und kollektiven Identitäten von Michel Wieviorka, Forschungsdirektor an der Pariser Ecole des Hautes Etudes en Sciences sociales (EHESS), hinaus. Das Bild einer Kultur hingegen wird von der Dominanzkultur entworfen und verbreitet, von denen, die das Sagen haben und die Bildgewalt. Je eindimensionaler dieses Bild, umso berechtigter die Frage, wem dieses Bild zugute kommt – das Klischee als Herrschaftsmittel.
Eigentlich, so Wieviorka, geht es bei all den Debatten über kulturelle Differenzen um eine Scheindiskussion, die auf einer anderen Ebene einen ähnlichen Zweck erfüllt wie etwa die mittelalterlichen Kreuzzüge und die diesen erstaunlich ähnlichen aktuellen Feldzüge: Beide Male wird im Namen »der Kultur« und deren Aufrechterhaltung Gewalt ausgeübt, in einem Fall militärische, im diskutierten Fall gesellschaftliche bzw. politische. Und so, kritisiert Wieviorka, lässt sich die Problematik auch nur denen auftischen, die sich aus Mangel an Expertise in Verallgemeinerungen flüchten. Oft werden dabei Meinungen ohne Hintergrundwissen medial geschaffen und als Tatsachen verbreitet. Reale Problematiken werden in der Debatte um kulturelle Differenz häufig vernachlässigt, etwa wenn letztere ohne Bezug auf Hierarchie und Mitbestimmung thematisiert wird. Soziale Anliegen, die Erfüllung elementarer Bedürfnisse nach Arbeit und Wohnraum, Fragen nach Ausbildungsmöglichkeiten und Partizipation an gesellschaftspolitischen Prozessen, haben gegenüber kulturellen Anliegen Vorrang. Die Missachtung dieser Bedürfnisse bildet eine erste Etappe in einem Teufelskreis: Wenn keine wirtschaftliche und soziale Integration stattfindet, werden Differenzen zu etwas Trennendem, sie werden aufgebauscht und rücken von der kulturellen Sphäre in die politische. Sie gelten nicht länger als Stigmata, sondern werden zum positiven Ausdruck, zum Angebot von Zugehörigkeit. Die ermächtigende (Wieder-)Aneignung solcher Zeichen stellt ein Gegengewicht zu erlebter sozialer Ungerechtigkeit dar. Sie wirkt allerdings auch polarisierend und kann radikale Tendenzen verstärken. In den aktuellen Debatten über das islamische Kopftuch lässt sich die Instrumentalisierung kultureller Attribute zu einem politischen Werkzeug klar erkennen: Das Kopftuchverbot in Frankreich stärkt fundamentalistische Kräfte. Diese richten ihre Aufrufe an Menschen, deren Anliegen bisher zu wenig Beachtung geschenkt wurde und animiert auch gemäßigte MuslimInnen, sich zu ihnen zu bekennen. Derart instrumentalisiert, dienen kulturelle Differenzen dem künstlichen Erzeugen und Aufputschen eines Konfliktes, der auch in der Rede vom »Clash of civilizations« medial genährt wird. Kulturelle Differenzen sieht Wieviorka als entscheidende Herausforderung der Gegenwart, der sich nur durch aufmerksame Wahrnehmung und Anerkennung begegnen lässt. Die notwendige Einbindung in demokratische Auseinandersetzungen bereitet den Weg, um interkulturelle Kommunikation zu sichern und sich für eine Vermischung der Kulturen zu öffnen. Wieviorka zieht zu seiner Analyse sowohl eigene Studien als auch zahlreiche Forschungen von KollegInnen heran. In klarer Sprache setzt er sich mit der Komplexität der Thematik auseinander und widersteht der Entwicklung eindimensionaler Erfolgsrezepte: Vielfältige Gesellschaften brauchen vielfältige Lösungen. Mehr Bildung. Und mehr Demokratie.
Michel Wieviorka: Kulturelle Differenzen und kollektive Identitäten |
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Hamburg: Hamburger Editionen, 2003 |
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