Susanne Greiner

Journalistin, Landsberg am Lech

1 Abo und 0 Abonnenten
Artikel

Selbsthilfegruppe „Elternkreis behinderter Kinder"

Pürgen - Familie Burghart macht demnächst Urlaub, den ersten seit elfeinhalb Jahren. Stephanie Burghart wird dann nach über einem Jahrzehnt endlich wieder eine Nacht durchschlafen können. Elfeinhalb Jahre - so alt ist auch Stephanies und Stephans Sohn Raphael. Er ist körperlich schwer behindert, muss rund um die Uhr betreut werden. Wie den Burg­harts geht es vielen Familien mit geistig oder körperlich beeinträchtigten Kindern. Hilfe bieten Einrichtungen und Beratungsstellen. Was es aber im Alltag bedeutet, ein beeinträchtigtes Kind zu haben, wissen nur Eltern, die selbst diese Situation jeden Tag erleben. Um hier einen Erfahrungs- und Wissensaustausch zu ermöglichen, hat die Pürgenerin eine Selbsthilfegruppe gegründet: den „Elternkreis behinderter Kinder".

„Man hat einfach viel mehr Angst um sein Kind", versucht Stephanie Burghart ihre Situation zu verdeutlichen. „Wenn Raphael in der Schule etwas nicht mag, kann er das nicht mitteilen." Ihr Sohn kann nicht sprechen, teilt sich nur durch Mimik mit. Er hat Epilepsie, sitzt im Rollstuhl, kann nicht greifen und nicht sitzen. Aus seinem Bauch ragt der Schlauch einer Magensonde. Gut bei Ausflügen in die Stadt, weil auch das Trinken für Raphael nicht einfach ist - und ihm seine Eltern per großer Spritze Flüssigkeit direkt in den Magen geben können. Die Stelle, an der der Schlauch durch die Bauchdecke geht, entzündet sich aber gerne. „Und Raphael ist generell leichter mal krank", sagt seine Mutter.

Dazu kommt die körperliche Belastung: Raphael muss in der Nacht mehrmals gedreht werden, manchmal alle halbe Stunde. Ständig gefordert sein, auch das lauge aus. Burg­hart macht sich zudem Sorgen, dass sie ihre sechsjährige Tochter Josepha vernachlässigt. Raphaels Bedürfnisse gingen vor - und die Schwester müsse dann hinten anstehen. „Sie meckert da natürlich, das ist klar." Auch das tut Burghart in der Seele weh, selbst wenn Josepha ihren Bruder liebt - und er sie absolut vergöttert. Als sie mit Josepha schwanger war, habe sie auch keine Angst gehabt, erzählt Burghart. Ihre Devise: „Das Kind ist bei uns herzlich willkommen. Und auch gut aufgehoben. Weil wir kennen uns jetzt aus."

Bekannt im Dorf

Man wachse in die Situation rein, sagt die 43-Jährige. Und natürlich ist da viel Schönes: „Raphael liebt es, spazieren zu gehen, er mag Leute um sich." Während der Elfjährige wochentags von morgens bis nachmittags in der Fritz-Felsen­stein-Schule in Königsbrunn ist, macht die Familie sonntags gerne Ausflüge. Hilfe bekommt sie vom familienentlastenden Dienst, konkret einer 18-Jährigen, die gerade zur Erzieherin ausgebildet wird. „Raphael ist im Dorf bekannt wie ein bunter Hund. Da wundert sich niemand, wenn er mal mit jemand anders unterwegs ist."

Auf den anstehenden Urlaub freut sich die Familie natürlich trotzdem. Dafür gehen sie ins Kinderhospiz in Bad Grönebach, das für Raphael eine Kurzzeitpflege anbietet, mit Unterbringung der ganzen Familie im selben Gebäude - spendenfinanziert. „Wir sehen Raphael jeden Tag. Anders würde das gar nicht gehen." Aber die Pflege wird ihnen abgenommen. Und auch ein Großteil der Sorgen.

Nach Raphaels Geburt arbeitet Burghart einmal pro Woche, aber während der Corona-Pandemie ist das nicht mehr möglich: Raphael gehört zur Hochrisikogruppe. Als er sechs Jahre alt ist, kommt er in die heilpädagogische Tagesstätte der Lebenshilfe Landsberg. Und dort lernt Burg­hart Daniela Hollrotter kennen, die sie animiert, sich mit anderen auszutauschen. Denn nach Raphaels Geburt gab es zwar Zettel mit diversen Physiotherapeuten und Therapien, erzählt die Pürgenerin. Aber keine konkrete Anlaufstelle. Deshalb startet sie eine WhatsApp-Gruppe. „Aber während der Pandemie ist das wieder eingeschlafen." Jetzt will sie wieder loslegen. Denn eine Selbsthilfegruppe für Eltern mit behinderten Kindern gibt es im Landkreis bisher nicht. Die nächste ist in Olching.

Die 43-Jährige hat sich auch schon früher für Kinder mit Behinderung eingesetzt. Zusammen mit einer Freundin und dem Landsberger Jonas Pioch hat sie für die Pflegeliege in der Schlossberggarage gesorgt. „Vorher konnte ich Raphael nur auf dem Boden der Toilette wickeln." Schön wäre eine behindertengerechte Toilette in der Altstadt, die auch abends aufhat. „Ich kann Raphael in die Schlossberggarage schieben. Aber für jemanden, der selbst mit dem Rollstuhl unterwegs ist, ist das wirklich anstrengend."

Professionelle Hilfe

Wissen für die Organisation einer Selbsthilfegruppe holte sich Burghart beim Treffpunkt „Selbsthilfegruppe" im Landratsamt, beim Selbsthilfezentrum München, das damals vor Ort war. „Die haben das toll geleitet, Bücher mitgebracht. Da war dann klar, dass ich die Selbtshilfe­gruppe starte." Als Zielgruppe sieht sie Eltern mit geistig oder körperlich behinderten Kindern oder mit von Behinderung bedrohten Kindern, „zum Beispiel ein Kind mit einem Gendefekt". Burghart denkt an Treffen einmal pro Monat. Öfter sei schwierig, „es ist ja auch immer was los, alle zusammenzubekommen, ist da nicht so leicht". Zwölf Personen wären ideal, maximal 15. „Aber wir können dann die Gruppen auch einfach teilen." Das Ziel der Gruppe: Tipps bekommen, Erfahrungen austauschen, vielleicht sogar irgendwann einen Leitfaden erstellen - „denn so etwas gibt es bisher nicht". Ende Juli hat Burghart einen Flyer gestalten und drucken lassen, den sie nun bei Kinderärzten oder auch Einrichtungen wie Regens Wagner auslegt. „Mal sehen, wie viele sich melden."

Sorgen und Ängste werden den Burgharts dennoch bleiben. Was passiert, „wenn einer von uns körperlich nicht mehr fähig ist, Raphael zu tragen?", fragt Stefanie Burghart. Mit ihren 43 Jahren hat sich die Pürgenerin gerade über das ‚Handycap-Testament' informiert, eine nicht unkomplizierte und nicht gerade angenehme Angelegenheit. Aber das Leben von Raphael soll organisiert sein. Auch wenn sie als Eltern irgendwann nicht mehr da sind.

Kontakt: Selbshilfegruppe „Elternkreis behinderter Kinder", Stephanie Burghart, Pürgen, Telefon 0151/47780281 oder E-Mail ebk-landsberg@web.de.

Zum Original