Susanne Greiner

Journalistin, Landsberg am Lech

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Artikel

„Theater an der Ruhr" in Landsberg: das Virus Ideologie

Landsberg - Was ist Ideologie? Der österreichischen Regisseur Philipp Preuss umschreibt den Begriff mit einer Metapher: das „Unbewusste der Geschichte". Oder suggestiver: Ein „Virus, das immer wieder auftaucht", wie er im Interview mit Ruhr-Theater-Dramaturg Helmut Schäfer sagt. Die Verbindung von Ideologie und ‚Virus' ist zentral in Preuss' Inszenierung „Europa oder die Träume des Dritten Reiches", eine Stückcollage, die auf den Lars-von-Trier-Filmen „Epidemic" und „Europa" sowie auf dem Buch „Das Dritte Reich des Traums" von Charlotte Beradt beruht. Die Aufführung setzt auf Vision und brutale Realität, auf Traum, netzhauteindrückliche Bilder und auf die Verwebung zahlreicher Ebenen - samt einer Prise Sarkasmus. Eine Herausforderung für den Zuschauer.

Schäfer gibt vor Beginn eine Einführung - neben einer knappen Zusammenfassung der Filminhalte eine „Traumanleitung": dass manche Dinge erst nach dem Aufwachen verständlich sind. Weil der Träumende Surreales im Traum nicht hinterfragt. Vielleicht kann man das als Anleitung für das Stück sehen: Anschauen, darauf einlassen, eintauchen. Und erst nach dem Stück hinterfragen.

Dass das ein guter Tipp ist, wird bei den Verschränkungen unterschiedlichster Ebenen im Stück klar. Sprünge zwischen Beradts Buch, den Filmen und Szenen, die nur im Stück vorkommen, breiten eine verwirrende, surreal anmutende Collage aus, die Logik as absurdum führt. Dazu viel Theaterblut, massenweise Bühnennebel. Zur alptraumhaften Stimmung trägt leise, aber nervenbelastende Musik bei. Die wenigen Momente der Stille wirken wie kurze Ruhephasen - bevor man wieder im Alptraum versinkt.

Eine Zugreise

In Preuss' Inszenierung starten die Protagonisten aus Lars von Triers Film „Epidemic" - passend als Sich-den-Ball-Zuspielende im Tenniskostüm (Eva Karobath). Die beiden Filmemacher im Film heißen Lars und Niels (Lars von Trier spielte in dem Film selbst mit), die ein Drehbuch in fünf Tagen schreiben wollen. Dessen Protagonist: Der Arzt Dr. Mesmer, der, als Schaffner unterwegs, unwissentlich ein Virus verbreitet. Was die beiden Filmemacher zur ersten Filmszene bringt: „Fangen wir an - in einem Zug." Und damit ist auch das Bühnenbild (Ramallah Aubrecht) für das Stück bestimmt: hintereinanderstehende, abwechselnd leuchtende Tore, die die Illusion eines durch einen Tunnel fahrenden Zuges erschaffen.

Neben den Ebenwechseln, die im Film „Epidemic" existieren, tauchen in der ersten Stückszene bereits Beradts „Träume" als Zitate der Schauspielenden auf. Dazu kommt ein weiteres Heraustreten aus einer Ebene: Die beiden Filmemacher erzeugen Geräusche, knisterndes Bonbonpapier, das sich wie Wasser anhört, oder nein, besser wie prasselnde Hausbrände: Wir reisen in die Zeit kurz nach Kriegsende, 1945, eine Zeit der Ungewissheit, in der die alte Ideologie als Virus weiterlebt - wir reisen in die Handlung des Films „Europa".

Der Film startet mit dem Eintauchen ins Unbewusste: Eine hypnotische Stimme zählt von eins aufwärts, „bei zehn wirst du in Europa sein". Im Stück wird die Stimme zur Person, einer allwissenden (einer weisen und weißgewandeten) Hypnotiseurin, die die Figuren - und vor allem das Publikum - in die Filmhandlung taucht. Es geht um den Deutschamerikaner Leopold Kessler, der beim Wiederaufbau helfen will, aber in die Kreise der Organisation „Werwolf" gerät: eine zum Ende des Weltkrieges von Himmler gegründete Gruppierung, die Terrorakte gegen die Besatzungsmächte ausführen sollte.

Kessler wird von den „Werwölfen" zum Attentat gezwungen. Und obwohl er die Machenschaften der NS-Organisation erkennt, führt er es aus. Seine Erkenntnis, dass die Nazi-Ideologie weiter besteht, dass das Virus weiterlebt, lassen ihn fortfahren. Beim Attentat mittels einer Bombe im Zug stirbt er.

Zwischengesetzt sind im Stück immer wieder die Filmemacher aus „Epidemic", die Szenen aus dem Film im Film (in „Epidemic"), aber auch aus „Europa" einleiten, mit Anweisungen wie: „im Bad, schwarz-weiß" - und selbst in die Szenen springen. So ins absurd-dekadente Abendessen aus „Epidemic" samt Trüffeln und Wein, bei dem im Theaterstück aber auch das Ende des Films „Europa" erzählt wird ... Wer jetzt noch weiß, wo er ist: Respekt. Nicht umsonst nennt das Theater das Stück eine „theatrale Hypnose".

Das Ensemble spielt großartig. Überzogene Mimik steht maskenhaften Gesichtern gegenüber, entsetzte Schreie dem sarkastischen Schwärmen über weiße Trüffel. Ob Europa im Barockkleid so viel Theaterblut gebraucht hätte - nein. Weniger Bühnennebel? Nun ja, wir sind im Traum. Und der kennt keine Übertreibung. Und die Bilder bleiben kleben. Das Ruhrtheater fordert sein Publikum. Und es warnt. Am Ende erzählen Stimmen vom Aufwachen-Wollen, „um dich vom Wahnbild Europa zu befreien. Aber das ist nicht möglich." Wir verharren im Unbewussten. Das Virus ‚Ideologie' lebt weiter.

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