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"Die Unpünktlichen haben mehr vom Leben"

Marc Wittmann forscht zum Thema Zeitempfinden am Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene in Freiburg. Dieser Artikel ist Teil von ZEIT am Wochenende, Ausgabe 30/2022.


ZEITmagazin ONLINE: In jedem Freundeskreis gibt es mindestens eine Person, die immer zu spät kommt und alle warten lässt. Wieso kriegen manche das mit der Pünktlichkeit einfach nicht hin?

Marc Wittmann: Manche Menschen sind eher "erlebnisorientiert" als "uhrzeitorientiert". Das heißt, sie richten ihre Aufmerksamkeit stärker auf nicht-zeitliche als auf zeitliche Ereignisse. Erlebnisorientierte sind so stark von dem absorbiert, was sie gerade tun, dass sie buchstäblich die Zeit vergessen. Man könnte das auch ins Positive drehen und sagen: Die Unpünktlichen haben mehr vom Leben.

ZEITmagazin ONLINE: Naja, vielleicht würden sich die anderen auch gerne so tief in eine Beschäftigung versenken, aber sie gestatten sich das nicht, weil sie Rücksicht auf die Gruppe nehmen.

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Wittmann: Studien haben ergeben, dass diejenigen, die stärker erlebnisorientiert sind, tatsächlich ein schlechteres prospektives Gedächtnis haben. Das heißt, es fällt ihnen wirklich schwerer, sich zur richtigen Zeit an ihre zuvor gefassten Handlungsabsichten zu erinnern. Und es kommt noch etwas hinzu: Die Unpünktlichen verschätzen sich auch häufiger in Bezug auf die Zeit. Sie fangen zum Beispiel noch etwas an, weil sie glauben: "Das schaffe ich noch locker vorher." Je weniger jemand grundsätzlich auf die Zeit achtet, desto kürzer schätzt er oder sie die Zeit ein, die vergeht.

ZEITmagazin ONLINE: Soll heißen, die Zuspätkommenden können nicht anders? Aber wieso schaffen sie es dann rechtzeitig zum Flughafen oder zum Vorstellungsgespräch?

Wittmann: Wenn etwas extrem wichtig ist, dann können es auch die notorisch Unpünktlichen schaffen. Genau diese Diskrepanz führt dazu, dass die Leute im Umfeld gekränkt reagieren, wenn sie mal wieder auf die Person warten müssen.

ZEITmagazin ONLINE: Unpünktlichkeit ist oft ein Streitpunkt unter Freunden oder Partnerinnen. Ein Fan hat Madonna sogar mal wegen eines verspäteten Konzertbeginns verklagt. Wieso ist Unpünktlichkeit ein so emotionales Thema?

Wittmann: Wer selbst pünktlich kommt, fühlt sich schnell missachtet, wenn der andere sich verspätet. Denn man selbst hat ja einiges darangesetzt, um zur verabredeten Zeit zu erscheinen, sich abgehetzt, vielleicht eine Tätigkeit unterbrochen. Wenn der andere einen dann stehen lässt, nimmt man eine Dissonanz in der Beziehung wahr: dass man selbst mehr investiert als die andere Person.

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