Von wilden Jungs, feinen Haaren und einer neuen Tradition in Europa
Maria Sabine Schmidt liebt das Ursprüngliche: Mit 25 Jahren macht sich die Nürnbergerin auf nach Amerika. Sie wird für ein Jahr einem Mann über die Schulter schauen, der die seltene Handarbeitstechnik Hitchen beherrscht. Pferdehaar wird aufwändig zu Mustern gewickelt, die z. B. Gürtel und Zaumzeuge verzieren. Als sie alles von ihm gelernt hat, geht sie zurück. Heute, nach über zwanzig Jahren, hat sich in Europa eine eigene Hitching-Kultur entwickelt, zu der die Nürnbergerin den Grundstein legte.
Endlich hat sie eine Antwort. Der Amerikaner hat doch zurückgeschrieben. Wenn sie möchte, solle sie ihn besuchen kommen. 1990 verlässt die Hotelmanagerin Maria Schmidt Europa, um für ein Jahr von dem Cowboy Rusty Britton in Boulder/Colorado von Grund auf zu lernen. Sie ist mit Pferden aufgewachsen und hatte sein Muster in einer Pferdezeitschrift entdeckt und ihm geschrieben. Er ist einer der letzten, die das Hitchen beherrschen. Rusty bringt ihr alles bei, was er kann und weiß. Dann kehrt sie wieder zurück nach Europa.
„He is hitching“, sagen die Amerikaner, wenn ein Mann im Gefängnis sitzt. Das erklärt die Wurzeln der Handarbeitstechnik. Die Strafgefangenen in den amerikanischen Staatsgefängnissen sind es, die spätestens ab den 1880er Jahren mit ihren Händen die feinen Pferdehaare zu Mustern wickeln, gedacht als sozial sinnvolle Arbeit. Darüber hinaus hat sich das Hitchen fast ausschließlich bei den Cowboys etabliert, obwohl die Muster eher indianisch und grafisch aussehen. Wo das Hitchen jedoch genau entstand, ist bis heute unklar.
Es duftet nach Holz und Pferd. Deckenhohe Grünpflanzen, viel Holz, keine Zwischenwände: ihre heutige Loftwohnung in Nürnberg-Rosenau hat Maria Schmidt mit ihrem Mann zusammen aus Naturmaterialien selbst gestaltet. An einem großen Tisch arbeiten die Hitcherinnen Gerlinde Brandau, Cornelia Lienhardt und Heidi Staudt-Güllich, jede an ihrem Werkstück. Maria Schmidt hilft ihnen, wenn sie nicht mehr weiter wissen. Aus Amerika zurückgekehrt, entwickelte die Nürnbergerin ihren eigenen Stil, stellte auf Messen wie z. B. der Equitana in Essen aus und schrieb Anleitungsbücher; war doch das Hitchen in Europa noch gänzlich unbekannt. Eine stetig anwachsende Schar an weiteren Hitcherinnen – in Europa sind es überwiegend Frauen – entstand. Sie machte sich einen Namen.
Aus einer Schuhschachtel holt Maria Schmidt einen Brief und liest daraus vor. Ein älterer Mann beschreibt, wie groß er ist, wie viel er wiegt und wie alt er ist. „Das ist keine Heiratsannonce“, lacht sie, „er will mir nur mitteilen, wie ich das Armband für ihn gestalten soll.“ Die Nürnbergerin bekommt immer wieder Einzelaufträge von Kunden, denen Haare ihrer verstorbenen Pferde beiliegen, aus denen sie ein Erinnerungsstück fertigen soll. Ein schlichtes Armband wird sie dem kernigen Kunden aus dem kleinen Büschel Pferdehaare hitchen.
Am Pferdehaar liebt Maria Schmidt „die Mischung aus Robustheit und Weichheit“. Nur drei Dinge werden für das Hitchen benötigt: Ein Stock, eine Schnur, die der Hitching-Künstler unter Zug darum wickelt und die Pferdehaarbündel aus Schweif- und Mähnenhaaren, die an die Schnur geknotet werden. Doch mit diesen wenigen Mitteln ist eine unbegrenzte Vielfalt an Mustern möglich, über die Schmidt noch immer staunen kann. Für ein schmales Armband müssen zwölf Bündel mit je zehn Haaren verbunden werden. Jedes der 120 Haare wird also einmal in die Hand genommen. Ein Gürtel dauert etwa eine Woche plus Vor- und Nacharbeit. Daneben können Quasten gefertigt oder Handtaschen, Spazierstöcke, Türgriffe und natürlich Sättel verziert werden. Am besten hat Maria Schmidt Zäume und Schmuck mit Pferdehaar verkauft.
Dann kamen die Schmerzen und eine Schulter-Operation. Nach neunzehn Jahren konnte sie die zur Berufung gewordene Tätigkeit nicht mehr ausführen. Viel Wissen hat die als europäische Hitchingpäpstin Bezeichnete zusammengetragen. Dass es erstaunlicherweise nicht die Pferdevölker waren, die mit Pferdehaar gearbeitet haben. Dass trotz der indianisch anmutenden Muster die Indianervölker das Hitchen nicht kennen. Sie denkt, dass das Hitchen mit afroamerikanischen Sklaven nach Amerika gekommen sein muss. Jetzt erfüllt sie nur einzelne Spezialaufträge und gibt Hitching-Kurse. Sie sattelte um. Machte Ausbildungen als Heilpraktikerin, coacht Andere bei Berufswechseln und wird demnächst ihr Psychologiestudium abschließen. Das Hitchen ist nun Hobby.
Für die Zukunft träumt sie von Ausstellungen internationaler Hitching-Arbeiten, einem Bildband und weiterer Forschungsarbeit. Maria Sabine Schmidt freut sich über die nun 1.000 bis 1.500 Hitcher in Europa, die für mehr Mustervielfalt sorgen als es sie in Amerika je gegeben hat.
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