Stephan Kroener

Freier Journalist und Historiker, Freiburg

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Artikel

Kolumbien: Mit Gewalt gegen die Aussöhnung

Bild: Ein Polizist wird während einer Demonstration in der kolumbianischen Hauptstadt Bogota mit Farbe bespritzt, 24. Februar 2021 (IMAGO / VWPics)

Auch Kolumbien steckt derzeit inmitten einer dritten Pandemiewelle. Rund 2,5 Millionen Fälle verzeichnet das Land mit seinen gut 50 Millionen Einwohnern inzwischen, die zweithöchste Zahl an Infektionen in Lateinamerika. Knapp 65 000 Menschen sind bislang an den Folgen der Virusinfektion gestorben - nach Brasilien und Mexiko der dritthöchste Wert auf dem Subkontinent.[1]

Während sich Regierungen und Behörden landesweit bemühen, die Pandemie mit Hilfe strenger Hygienemaßnahmen und Ausgangssperren in den Griff zu bekommen, gerät der Friedensprozess im Lande nicht nur aus dem Blick, sondern gefährlich ins Wanken. Verantwortlich dafür sind der amtierende Präsident Iván Duque, der den Prozess der Aufklärung und Versöhnung gezielt sabotiert, eine überforderte UN-Mission, die zunehmend selbst in den Strudel der Gewalt gerät, sowie eine korrumpierte, brutal agierende Polizei, die in der Gesellschaft kaum Vertrauen besitzt.

Schwindende Hoffnungen

Dabei hat sich die Gewalt vor allem in den ländlichen Regionen des Landes im Zuge der Pandemie noch einmal verschärft. Seit Unterzeichnung des Friedensabkommens zwischen der kolumbianischen Regierung und der linksgerichteten Guerilla Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia (FARC) im Dezember 2016 wurden bereits über 260 der mehr als 13 000 Exguerilleros sowie über 1160 Aktivistinnen und Aktivisten sozialer Bewegungen ermordet. Die Urheber dieser Taten bleiben im Verborgenen, werden aber im Umfeld neoparamilitärischer, krimineller Gruppen vermutet, die sich vor allem durch Drogenhandel finanzieren. Zusätzlich befördert werden die Morde durch die allgegenwärtige Straflosigkeit.

Der Verlust, den der Tod der Aktivisten für die betroffenen Gemeinden bedeutet, ist immens, verlieren sie doch damit zumeist genau jene Menschen, die sich für den sozialen Zusammenhalt, für die gemeinschaftlichen Rechte oder den Umweltschutz einsetzen. Jeder dieser Toten steht für einen sozialen Prozess, und jeder dieser Morde bedeutet fast immer dessen Ende.

Dabei war mit dem Friedensabkommen von 2016, für das der damalige kolumbianische Präsident Juan Manuel Santos mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde, die Hoffnung aufgekeimt, die seit Jahrzehnten in Kolumbien herrschende Gewalt endlich zu beenden. Die Morde an den Aktivisten ersticken diese Hoffnungen und schwächen den Friedensprozess enorm. Zugleich verhallt in der Pandemie noch mehr als schon zuvor die von Menschenrechtsorganisationen und sozialen Bewegungen immer wieder geäußerte Sorge über die schleppende Umsetzung des Friedensabkommens.

Zwar sind vor allem in den ersten Monaten nach Vertragsunterzeichnung historische Meilensteine erreicht worden - unter anderem die Entwaffnung der FARC-Kämpferinnen und Kämpfer, die Verwandlung der Guerilla in eine politische Partei sowie natürlich das Ende der Kampfhandlungen. Allerdings liegen sie mittlerweile mehrere Jahre zurück. Die nicht unbedingt medienwirksamen Prozesse der Reintegration der früheren Guerilleros in die Gesellschaft oder die Versöhnungsarbeit dauern deutlich länger und sind angesichts der anhaltenden Gewalt viel schwieriger umzusetzen.

Hinzu kommt, dass dem seit 2018 regierenden rechtskonservativen Präsidenten Iván Duque der Friedensprozess weit weniger am Herzen liegt als seinem Vorgänger Juan Manuel Santos. Duque gilt vielmehr als politischer Ziehsohn des rechten Ex-Präsidenten Álvaro Uribe, der Kolumbien von 2002 bis 2010 regierte und einer der schärfsten Kritiker des Vertrags mit der FARC ist. Zugleich hat es Duque - wie auch sein Vorgänger Santos - bisher nicht vermocht, die nach dem Rückzug der FARC-Guerilla entstandenen Machtvakua in den Regionen durch staatliche Präsenz zu füllen. International agierende Drogenkartelle und kriminelle Banden konnten ihren Einflussradius in die zuvor von der Guerilla kontrollierten Gebiete ausweiten. Eine Welle der Gewalt war die Folge: Allein im Jahr 2020 wurden nach UN-Angaben mindestens 66 Massaker verübt, bei denen mehr als 250 Menschen starben. Die NGO Indepaz zählte sogar 90 Massaker mit bis zu 375 Toten.

Seit seinem Amtsantritt versucht Duque überdies die Umsetzung der Sondergerichtsbarkeit zu verhindern. Immer wieder brachte er Einwände gegen ihre gesetzliche Implementierung vor und verlangsamte durch sein Vetorecht die Einrichtung der Jurisdicción Especial para la Paz (JEP), der „Sonderjustiz für den Frieden". Bei der JEP handelt es sich um das juristische Stützgerüst des Friedensvertrages: die rechtliche Aufarbeitung der in dem fünfzigjährigen Konflikt begangenen Verbrechen. Sie sichert allen Tätern - der Guerilla wie auch staatlichen Akteuren - Strafminderung zu, wenn sie bei der Aufklärung, der Wahrheitsfindung und der Aussöhnung helfen.

Ende Februar erkannten sechs ehemalige FARC-Anführer erstmals öffentlich ihre Schuld für die von ihnen verübten schweren Verbrechen während des Konflikts an. Zugleich förderte die Sonderjustiz in einer ersten Untersuchungsphase massive Gewalttaten des Militärs zu Tage: Nach Aussagen von Armeeangehörigen ermordeten Soldaten zwischen 2002 und 2008 mindestens 6402 unschuldige Menschen - fast dreimal so viele wie bislang bekannt. Den als sogenannte Falsos Positivos („Falsch-Positive") bekannt gewordenen, systematischen außergerichtlichen Hinrichtungen fielen zumeist junge Männer aus armen Verhältnissen zum Opfer; die Täter in Uniform gaben sie als im Kampf gefallene Rebellen aus, um Prämien und Extraurlaubstage zu erhalten. Trotz dieser kleinen Fortschritte in der juristischen Aufarbeitung bleibt Versöhnung schwierig in einem Land mit über neun Millionen direkt vom Konflikt betroffenen Menschen - und damit mehr als 18 Prozent der Gesamtbevölkerung.

UN-Mission im Strudel der Gewalt

Auch das Aushängeschild des Friedensprozesses, die UN-Verifizierungsmission (UNVMC), vermag es offenbar nicht, diesen abzusichern. Im Gegenteil: Dem Chef der Mission, Carlos Ruiz Massieu, wird von vielen Experten Unfähigkeit vorgeworfen. Obwohl der mexikanische Berufsdiplomat über keinerlei Erfahrungen in bewaffneten Konflikten oder überhaupt mit der Situation in Kolumbien verfügte, wurde er 2019 in das Amt berufen. Zu allem Überfluss wird Massieu eine politische Nähe zum Präsidenten Duque nachgesagt. Möglicherweise von den Vereinten Nationen als ein diplomatisches Entgegenkommen an Bogotá gedacht, hat dies den Friedensprozess jedoch nur noch weiter ausgebremst. Klare Worte gegenüber der kolumbianischen Regierung sind von der Mission, die mit allen Akteuren verhandeln muss, jedenfalls nicht zu erwarten.

Zuletzt ist die UN-Mission selbst in den Strudel der Gewalt geraten: Mitte vergangenen Jahres fand man einen ihrer Mitarbeiter, den Italiener Mario Paciolla, tot in seiner Wohnung in San Vicente del Caguán auf, erhängt und mit aufgeschnittenen Armen.[2] Paciolla war einer von über hundert internationalen UN-Freiwilligen, die in Kolumbien die Umsetzung des Friedensvertrages begleiten. Gerade für sie war sein Tod ein Schock. Zwar sind die Todesumstände noch immer nicht geklärt - weder Suizid noch Mord lassen sich bisher ausschließen. Dennoch wirft Paciollas Tod viele Fragen auf: Kann die UNO ihre eigenen Freiwilligen vor der Gewalt in Kolumbien und den mit ihr einhergehenden psychischen Belastungen ausreichend schützen? Warum sind nach der Tat keine weiteren Schutzmaßnahmen für die Freiwilligen getroffen worden, zu ihrer physischen wie psychischen Sicherheit? Zu all diesen Fragen schweigen die Vereinten Nationen bislang.

In den Medien ist in den Monaten nach Paciollas Tod das Bild einer Organisation entstanden, die den Wogen der Gewalt in Kolumbien nicht mehr gewachsen ist. Das empfinden auch viele Freiwillige so, die die UN-Mission in Kolumbien aus idealistischen Motiven unterstützt haben, sich nun aber mehr und mehr von der Organisation abwenden. So sei es Ex-Freiwilligen zufolge nach Paciollas Tod zu einer massiven Kündigungswelle gekommen.

Vor allem viele junge Kolumbianer sind über den schleppend verlaufenden Friedensprozess enttäuscht. 2016, nach dem gescheiterten Plebiszit, bei dem sich eine knappe Mehrheit der Kolumbianer überraschend gegen den Friedensvertrag mit der FARC ausgesprochen hatte, waren sie noch auf die Straße gegangen, um für ein Ende des Konfliktes zu protestieren.[3] Die seither angestaute Wut brach sich Anfang September vergangenen Jahres Bahn.

Extreme Polizeigewalt

Auslöser war ein Fall extremer Polizeigewalt: die brutale Festnahme des 43jährigen Anwalts Javier Ordóñez in Bogotá, dessen Schreie „Hört bitte auf", festgehalten in einem im Internet geteilten Handyvideo, viele an das „I can't breathe" des Afroamerikaners George Floyd in den USA erinnerten. Offenbar aufgrund eines Verstoßes gegen die Coronabeschränkungen drückten Polizisten den Familienvater bei seiner Festnahme zu Boden und immobilisierten ihn mindestens fünf Mal mit einer Elektroschockpistole. Ordóñez verstarb später im Krankenhaus jedoch nicht an den Folgen der Elektroschocks, sondern an weiteren Folterverletzungen nach seiner Festnahme.

Dutzende städtische Polizeiposten wurden daraufhin bei Unruhen angezündet, mindestens 13 Menschen starben, viele durch Polizeikugeln. Auch international wurde der massive und rücksichtslose Einsatz von Schusswaffen durch die Beamten kritisiert. Die Wurzeln liegen dabei allerdings tiefer. Viele der Polizisten sind als Gesetzeshüter schlecht ausgebildet, da sie während des bewaffneten Konflikts oft die Rolle einer Hilfstruppe der Armee einnahmen. So untersteht die kolumbianische Polizei nicht wie in Deutschland dem Innenministerium, sondern dem Verteidigungsminister. Dadurch sind die Polizisten zwar militärisch geschult, dem Leitsatz „Dein Freund und Helfer" fühlen sich viele aber kaum verpflichtet. Eher sehen sie die Bürgerinnen und Bürger als Gefahr und potentielle Terroristen, nicht zuletzt deshalb, weil Anschläge auf Polizeistationen, Hinterhalte auf Patrouillen und Entführungen von Beamten in den vergangenen fünf Jahrzehnten des Konflikts zum Alltag der Polizisten gehörten. Dadurch haben sie eine sprichwörtliche Schützengrabenmentalität ausgebildet, die sich auch architektonisch in den festungsartigen kolumbianischen Polizeistationen niederschlägt.

Auf der anderen Seite sehen große Teile der Bevölkerung in der Polizei einen Feind, eine Verteidigerin der Eliten und der jahrhundertealten sozialen Ungleichheit. Verstärkt wird dieses Gefühl durch die alltägliche Korruption und den Autoritätsmissbrauch in ihren Reihen. Und eine Polizeireform, die ihren Namen verdient, steht weiter aus.

Wendepunkt Präsidentschaftswahl?

Hoffnung bietet da für viele nur die für das kommende Jahr anstehende Präsidentschaftswahl. Zwar gleicht das Kandidatenfeld bislang noch einem Mosaik mit breitem politischem Farbspektrum. Dennoch könnte die Wahl einen Wendepunkt markieren. Unter den fünf Kandidaten, denen Chancen auf einen Sieg in der ersten Runde der Wahl eingeräumt werden, befinden sich auch zwei Politiker aus dem Lager der Mitte-links-Parteien: der ehemalige Bürgermeister der Hauptstadt Bogotá, Gustavo Petro vom Movimiento Progresista, in dem die rechtskonservativen Eliten das Schreckgespenst venezolanischer Verhältnisse sehen, sowie Sergio Fajardo als Vertreter der Mitte-links-Fraktion. Der Ex-Gouverneur der einflussreichen Region Antioquia steht allerdings wegen seiner Verwicklung in das Missmanagement des Megaprojekts der Ituango-Talsperre unter Druck. Dennoch verfügt Kolumbiens politische Linke damit über zwei erfahrene Kandidaten, die sich Hoffnungen auf einen Sieg machen können.

Das rechte Parteienspektrum befindet sich demgegenüber noch im Prozess der Neuordnung. Dabei spielt vor allem eine Person eine zentrale Rolle: der Expräsident und ultrarechte Scharfmacher Álvaro Uribe. Zwar sehen nicht wenige in Kolumbien die Zeit des „Post-Uribismus" gekommen. Tatsächlich ist das Image der einstigen rechten Lichtgestalt, der in den Nullerjahren für seine Erfolge in der Guerillabekämpfung gefeiert wurde, angekratzt: Uribe polarisiert nicht nur regelmäßig mit polemischen Twitter-Attacken, sondern sieht sich zugleich juristischen Ermittlungen aufgrund seiner Verwicklungen mit paramilitärischen Gruppen ausgesetzt. Im Sommer vergangenen Jahres wurde er aufgrund einer möglichen Beeinflussung von Zeugen sogar vorübergehend unter Hausarrest gestellt.

Dennoch erscheint es unwahrscheinlich, dass Uribe ganz aus der kolumbianischen Politik verschwindet. Zwar kann er selber aufgrund der in der Verfassung festgelegten Begrenzung auf zwei Amtszeiten nicht mehr antreten. Obendrein gilt sein Verhältnis zu seinem Ziehsohn Iván Duque als angespannt, denn dieser hat es bisher nicht vermocht, sein politisches Profil zu schärfen und Mehrheiten für seine Politik zu gewinnen. Doch anstatt sich zurückzuziehen, wird Uribe wohl eher neue Allianzen schmieden.

Vor dem ersten Wahlgang im Mai 2022 bleibt ihm allerdings wenig Zeit, einen neuen Sprössling heranzuziehen, der erfahrenen linken Kandidaten wie Petro oder Fajardo die Stirn bieten könnte. Damit aber könnten die Spannungen im rechten Lager der Linken im nächsten Jahr erstmals zu einem Sieg bei der Präsidentschaftswahl verhelfen - wenn es ihr denn gelingt, sich auf einen gemeinsamen Kandidaten zu einigen. Die nächsten zwölf Monate werden entscheiden, in welche Richtung das Land zukünftig steuert - und damit auch über die Zukunft des brüchigen Friedensprozesses.

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