Steffen Weisbrod

Dipl. Wirtsch.-Ing., Badalona

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Artikel

José Amazan da Silva: ein Hansdampf in allen Oktaven

Den nordöstlichen Bundesstaaten Brasiliens haftet ein ähnliches Stigma an wie Italiens Süden: arm und infrastrukturell unterentwickelt. Wer aus dieser Region stammt und den portugiesischen Allerweltsnamen Silva trägt, dürfte im wahrsten Sinne des Wortes der personifizierte Hinterwäldler sein. Silva heisst nämlich Wald und ist unter den Nachnamen im portugiesischen Sprachraum so verbreitet wie Müller, Meyer oder Schmidt im deutschen. Andererseits: Wer aus einfachen Verhältnissen stammt und mit 57 Jahren drei erfolgreiche Berufsbiografien aufweisen kann, muss über eine ordentliche Portion Strebsamkeit und Disziplin sowie vielseitige Begabungen verfügen.

Anfang März 2020 in Campina Grande, der zweitgrössten Stadt im Bundesstaat Paraíba. Die Zufahrtsstrasse zum Gewerbegebiet Velame ist unbefestigt und mit Schlaglöchern übersät. Hier bauen in einem schlichten Flachdachgebäude 20 Mitarbeitende in Handarbeit gut 25 Akkordeons pro Monat zusammen. Zum Interviewtermin erscheint Amazan in legerem Outfit. Eine stattliche Erscheinung mit gepflegtem Kurzhaarschnitt und leichtem Bauchansatz.

Anfänge als Musiker Seine Kindheit und Jugend verbrachte Amazan in Jardim do Seridó, zweieinhalb Autostunden nordwestlich seiner Geburtsstadt Campina Grande gelegen. Als Vierzehnjähriger schenkte ihm seine Mutter eine gebrauchte Handharmonika, und mit Unterstützung seines gleichaltrigen Cousins brachte er sich das Spielen selbst bei. Die ersten Auftritte hatte er auf privaten Festen. 1984 trat er als erster Akkordeonist der Folkloregruppe "Tropeiros da Borborema" bei. Mit dieser Gruppe ging er zwei Jahre später das erste Mal auf Europatournee durch Frankreich und Spanien. Die Reise nach Europa habe ihn stark beeindruckt und seinen Sinn für Vielfalt und Kultur geschärft. "In der Anfangszeit meiner Karriere konnte ich von der Musik nicht leben und arbeitete auf dem Bau und in der Landwirtschaft", berichtet Amazan. Erst mit 25 habe er seine erste Vinylplatte "Naturalmente" mit eigenen Liedern und Texten veröffentlichen können und damit den Durchbruch als Profimusiker geschafft.

Amazans Musik ist geprägt vom Forró, einem traditionellen Musikstil und Paartanz seiner Heimatregion. Campina Grande gilt als dessen musikalisches Zentrum. Während der Sonnenwende und zu Ehren der Schutzheiligen im Juni finden hier die "Festas Juninas" (Junifeste) statt. Um den Namenstag Johannes des Täufers (São João) erlebt die Stadt jährlich das grösste Volksfest des Nordostens mit viel Livemusik. Der charakteristische Rhythmus dieses Musikstils mit einer langen und zwei kurzen Betonungen beeinflusst seit Jahren die Popmusik Brasiliens. Die traditionelle Besetzung besteht neben dem Sänger nur aus Handharmonika, Basstrommel und Triangel. Amazan und weitere moderne musikalische Vertreter haben den Stil weiterentwickelt und treten mit grösserer Band auf, erweitert mit Keyboard, Schlagzeug, Gitarre, Bass und Begleitsängern. Neben seinen Liedertexten schreibt er auch Gedichte und hat mittlerweile drei Versbände veröffentlicht. Die Kennerin der Kulturszene des brasilianischen Nordostens und pensionierte Tourismusbeauftragte Ana Gondim hält Amazan für einen der bedeutendsten Vertreter der zeitgenössischen Poesie Brasiliens. Seine Verbundenheit zu den Menschen und der Kultur dieser Region drücke sich in seinen Gedichten aus und zeuge von Wortwitz und Authentizität.

Der Weg zum Unternehmer Und wie kommt ein bereits sehr erfolgreicher Musiker und Dichter auf die Idee, eine Akkordeonfabrikation aufzubauen? "Ich war schon immer handwerklich interessiert und ein Tüftler. Meine erste Harmonika war schon alt und machte regelmässig Probleme. Ich begann herumzubasteln und konnte bald kleinere Reparaturen selbst durchführen", erläutert Amazan. Sein Talent habe sich schnell unter seinen Musikerkollegen herumgesprochen. Während der Jahrtausendwende steckte Brasilien in einer schweren Wirtschaftskrise, und die wenigen kleinen Werkstätten für Handharmonikas gaben alle auf. Gleichzeitig verteuerte sich der Import von Instrumenten aus Italien, dem Mekka der Herstellung von Handzuginstrumenten.

In den darauffolgenden Jahren entstanden viele neue Bands, und die Nachfrage nach hochwertigen Instrumenten stieg an. Ein Freund, dessen Ziehharmonika er auch repariert hatte, sprach ihn auf die Marktlücke an. Amazan reiste mehrmals nach Castelfidardo in der italienischen Provinz Ancona, um den Bau von Ziehorgeln zu erlernen. Die mittelitalienische Stadt gilt als Heimat der Akkordeonproduktion. Noch im selben Jahr begann er, Mitarbeitende anzulernen und mit ihnen erste Akkordeons aus importierten Teilen zusammenzubauen. Er benannte die Firma nach seiner Mutter Letice. "Wir haben die Schreibweise des Namens leicht angepasst, weil ‹Leticce› irgendwie italienischer klingt", fügt Amazan hinzu und lächelt dabei verschmitzt. Ein Instrument bestehe aus etwa 10 000 Einzelteilen, und inzwischen könnten seine Mitarbeitenden gut 60 Prozent aller Komponenten selber herstellen, bei jenen aus Holz sogar fast alle. Eine noch höhere eigene Wertschöpfung mache wirtschaftlich keinen Sinn. Da es sehr viele Ausstattungsoptionen gibt, wird jedes Instrument nach Kundenwunsch gebaut. "Wir hatten schon Kunden, die den Korpus aus einem ganz speziellen Holz haben wollten und dieses extra in die Werkstatt brachten", sagt er.

Glaube und Familie Amazan ist gläubiger Katholik und ein Familienmensch. Als im Juni 2000 seine Schwester Lúcia von ihrem Ehemann brutal ermordet wurde, nahm er deren damals achtjährigen Pflegesohn Luan bei sich auf und adoptierte ihn. Er ist seit über dreissig Jahren verheiratet und hat sieben leibliche Kinder. Sein Adoptivsohn Luan ist ebenfalls Akkordeonist und mittlerweile einer der bekanntesten Nachwuchsmusiker Brasiliens. Er zog 2014 ins Finale der auch in Brasilien populären Fernsehshow "Superstar" ein und belegte den dritten Platz. Die drei ältesten Kinder arbeiten in der Akkordeonfabrik mit. Seit Amazan im Oktober 2016 zum Bürgermeister von Jardim do Seridó gewählt wurde, hat er sich aus dem operativen Geschäft bei Leticce zurückgezogen und die Geschäftsleitung an seine Tochter Marileide übergeben.

Der Weg in die Politik Das politische Engagement von Amazan hängt mit seiner Verbundenheit zu Jardim do Seridó zusammen. Der damals amtierende Präsident Michel Temer war in der Bevölkerung unbeliebt und galt sogar für brasilianische Verhältnisse als extrem korrupt. Amazan kandidierte für die oppositionelle und als gemässigt geltende Sozialdemokratische Partei Brasiliens (PSD) und gewann mit 51,1 Prozent der Stimmen. "Ich war überzeugt, dass ich als Bürgermeister etwas für die Verbesserung der Lebensverhältnisse vor Ort tun kann", sagt er. Als erfolgreicher Musiker und Unternehmer sei er finanziell unabhängig und könne glaubwürdig eine Politik gegen korrupte Strukturen und für die Interessen der einfachen Menschen vertreten. Seit seiner Wahl muss er nun seine Zeit gut einteilen zwischen seiner Musikerkarriere und seinem Verwaltungsamt. Zum amtierenden brasilianischen Präsidenten Jair Messias Bolsonaro möchte sich Amazan nicht äussern. Er lehne aber dessen polarisierenden und sexistischen Stil ab.

Im Herbst 2020 gelang Amazan bereits im ersten Wahlgang die Wiederwahl mit 50,7 Prozent der Stimmen. Und wer weiss, vielleicht wird es nach Luiz Inácio Lula da Silva (Präsident von 2003 bis 2011) wieder einmal einen "da Silva" in der grossen Politik Brasiliens geben. Er wäre zumindest nicht der erste Sänger in einer brasilianischen Regierung: Der legendäre Gilberto Gil war unter Präsident Lula Kulturminister.

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