Liegt da ein Schatten über der Clubkultur? "Wir sind 20 Jahre dabei, jedes Wochenende! Da braucht man professionellen Abstand, sonst ist man zu sehr in dieser Bubble drin, und dann kommt irgendwann der Burn-out", sagt Kristian Beyer, die eine Hälfte von Âme. Glücklich, wer sich Abstand leisten kann. "Die Figur des DJs ist mittlerweile kaum noch von dem zu unterscheiden, was in der ökonomischen und politischen Theorie als ›human capital‹ bezeichnet wird", schrieb Kristoffer Cornils angesichts des Freitodes von Avicii in der Clubkultur-Zeitschrift "Groove". Clubkultur als Selbstausbeutung.
Wer lange dabei ist, findet Auswege. Älterwerden in der Clubkultur, das muss noch ausgetestet werden, läuft bislang aber durchaus gut. Okay, Dr. Motte legt für die Sparkasse auf und fordert Techno im Bundestag. Aber DJ Koze reift bestens und konzentriert sich auf seine Stärken angesichts der Sterblichkeit - oder zumindest angesichts des 50. Geburtstags. Mouse On Mars haben nach einem Vierteljahrhundert eine ihrer besten Platten vorgelegt und "sind mal so richtige Kids noch", wie Frank Wiedemann sich freut, die andere Hälfte von Âme. Das House-Duo selbst ist nach zwei Jahrzehnten voller Hits endlich bereit für ein eigenes Album.
Âme sind seit 2001 als Duo in der Szene unterwegs. Kennengelernt haben sie sich in Kristian Beyers Plattenladen in Karlsruhe. Frank Wiedemann, als Musiker interessiert an den Schnittstellen von Jazz und Elektronik, ließ sich auf die Auswahl an Chicago-House und Detroit-Techno ein, die Beyer kredenzte - bald bastelten sie gemeinsam erste Tracks für das Label des Berliner NuJazz-Kollektivs Jazzanova - Wiedemann eher der Spieler, Beyer eher der Produzent. Der Durchbruch gelang spätestens 2005 mit der EP "Rej": Der Titeltrack einer der stilprägendsten des Jahrzehnts, auch 2018 noch nicht totgehört - ein erhabenes Stück Detroit auf den Balearen, straight from Baden.
Man hört den beiden an, dass sie die Neunziger nicht im Berliner Pillebad verbracht haben, sondern in der Provinz. Wiedemann und Beyer sind groß gewordene Jungs, beste Kumpels. Schwerer süddeutscher Akzent, leichte Sticheleien, so sitzen sie heute in ihren Kreuzberger Räumlichkeiten. Von hier führen sie gemeinsam mit dem DJ Dixon das Label Innervisions, hier ist ihr Studio, wo in jahrelanger Arbeit ihr erstes Album "Dream House" entstanden ist, und, Überraschung: Es zieht nicht nur auf den Floor, sondern nach überall.
"Am Anfang haben wir ein Resümee gezogen aus elektronischen Musikalben und aus den Alben von Künstlern aus dem Clubkontext, die uns gut gefallen - und da ist nicht viel hängengeblieben. Uns war schnell klar, dass es kein Clubalbum wird. Man wird älter, man hat sich einiges auf die musikalische Festplatte gearbeitet, das man verwenden will", sagt Beyer. Ein Luxus, den man sich, siehe oben, auch erst einmal leisten können muss. "Sicher", ergänzt Wiedemann. "Wir haben nicht das Gefühl, dass wir was beweisen und den nächsten Clubhit schmeißen müssen. Aber man will natürlich trotzdem ein schönes Album machen. Ich höre zu Hause keine House-Musik. Na, vielleicht zweimal im Jahr. Und er wahrscheinlich auch nicht. Das Album ist die Essenz, die Schnittmenge, die wir als Privatpersonen hören würden, nicht nur wir als öffentliche Personen." Beyer: "... als Techno- und House-Repräsentanten. Da gibt es schon eine Diskrepanz, bei dem, was wir mögen und dem, was die Leute von uns kennen. Also, wir leben die Clubkultur ja jedes Wochenende, aber im Privatleben spielt die keine Rolle. Das geht ja gar nicht. So privat Schranz hören."
Âme, auch das unterscheidet sie vielleicht vom gewöhnlichen House-Act, haben immer mit einem tiefen Bewusstsein für Musikgeschichte gearbeitet. Auch "Dream House" arbeitet mit Konzepten der Vergangenheit. Erkennbar ist das schon an den Gästen. Matthew Herbert ist dabei, klar, aber auch Krautrockpionier Hans-Joachim Rodelius und Gudrun Gut: Ihr Beitrag "Gerne" klingt ziemlich exakt so wie Malaria!, hätte Malaria! schon die Produktionsbedingungen von heute gehabt, räumliche Tiefe, Klangglanz. Mit dem Krautrock verbindet die Musik vor allem die Herangehensweise, wie Frank Wiedemann erläutert: "Man improvisiert, und innerhalb von 15 Minuten kommt man auf den Punkt. Die haben früher über 15 Minuten entwickelt und das auf Platte gepresst, wir schneiden dann nur die Essenz aus."
Erkennt man das immer gleich? Wiedemann: "Mir fällt das schwer, immer noch." - Beyer: "Ich bin die Essigessenz von Âme! Das ist meine Aufgabe. Ich versuche immer noch, einen gewissen Abstand zur Technologie zu halten, nicht zu viel darüber zu wissen - um den Überblick zu haben, um zu sehen, wo was hingeht, was in den Jams drinsteckt, was wegkann, was fehlt." Wiedemann: "Wenn ich jetzt drüber nachdenke: Mir geht es in fast allen Lebenslagen so, dass ich ein bisschen länger brauche, bis ich merke, was gut oder schlecht ist." Beyer: "Na, das ist gut, dass dir das jetzt mal auffällt, nach all den Jahren! Selbsterkenntnis! In der Mitte deines Lebens!"
Solange Âme die Selbsterkenntnis und sich selbst gegenseitig so liebevoll verarschen, muss man sich vermutlich keine Sorgen machen - weder um sie noch um die Geilheit ihres Sounds. "Dream House" ist ein Album der Atmosphären geworden, sagen sie, eines, das eine Weile einkochen musste, "wie ein Hirschsud" (Wiedemann). Es ist Schicht für Schicht entstanden, in Monaten, mit immer neuem Abstand zum Material, während beide sogar noch Vater wurden, in diesem echten Leben. Klar spricht aus der Musik Reife. Aus Beyer und Wiedemann aber eher die Lust, den Quatsch noch ein wenig weiterzuführen, und das ganz sicher auch auf dem Floor.