Wie damals ist die übergewichtige Rhonda die Zielscheibe. Zurück an der Pfarrschule, beim Klassentreffen, Jahre nach dem Abschluss. Der ehemalige Frauenschwarm Willfried Jones, genannt Wolf, ist umringt von seiner alten Clique. Sie machen Witze. Feixen. Während sie ihren Blick zum Gebet senken, trinkt Rhonda aus zwei Cocktailgläsern abwechselnd. In der Schulzeit hatte Wolf Sex mit Rhonda, wollte sie eigentlich demütigen, doch ihm gefiel der Sex. Und sie war es, "Fat Rhonda", die davon später rumerzählte, wofür Rhonda heftig gehänselt wurde - und Wolf gefeiert wie ein Held.
Ihr Charakter ist der einzig weibliche, dessen Innenleben Jamel Brinkley öffnet. In seinem Debüt "Unverschämtes Glück" erzählt der New Yorker Autor in neun Kurzgeschichten die innersten Gedanken von Männern, die wohl nicht immer wohlwollende Gefühle auslösen sollen. Aus der Sicht seiner männlichen Figuren mit schwarzer Hautfarbe erschafft Brinkley auf wenigen Seiten komplexe Handlungen mit ebenso komplexen Beziehungen zwischen den Figuren.
Brinkley, 1975 in New York geboren, erzählt aus der Perspektive von Söhnen, Brüdern, Vätern oder besten Freunden. Von Männern, die in der U-Bahn den Bauch einziehen, die heimlich und tragisch in ihre Mitbewohnerin verliebt sind, die ihre Maske nie abnehmen und deren zweites Zuhause eine Bar ist. Von Männern, aus allen Altersstufen und Lebensabschnitten.
Der Einblick in die Innenwelt der weiblichen Charaktere bleibt meist verschlossen. Die Frauen sind Mütter, die nicht verstehen können, Töchter, zu denen es kaum Kontakt gibt - oder Objekte der Begierde. Sie sind die erregenden Schenkel, die Brustwarzen, die sich unter dem Tank-Top abzeichnen, die Frauen auf der Studentenparty, die aufreizend tanzen.
Bei "Wolf und Rhonda" will Wolf auf dem Klassentreffen endlich verstehen, warum Rhonda sich den Quälereien der Mitschüler ausgesetzt hatte, außerdem will er ihr intimes Erlebnis wiederholen. Doch Rhonda, die damals ihre schwerkranke Mutter gepflegt hat, deren zehnter Todestag sich gerade am Tag des Klassentreffens jährte, lässt ihn abblitzen.
In Brinkleys Geschichten gibt es keine klaren Gewinner, keine schillernden Helden, keine einfache Unterteilung in Gut und Böse. So streift in "J'Ouvert, 1996" der Teenager Ty mit riesigem Frust, einem verhunzten Haarschnitt und ein paar Dosen warmes Bier intus, die ihm die Männer aus dem Park gegeben haben, nachts durch die Straßen von Brooklyn. Im Schlepptau seinen jüngeren Bruder, auf den er aufpassen soll. Am kleinen Omari, der seine Vogelmaske nie abnimmt und an der Hand seine unsichtbare Fantasiefreundin Angela hält, lässt Ty seinen Unmut aus: Er schlägt, ignoriert, vergisst ihn. Kauft ihm aber auch mit dem einzigen Geld Kartoffelchips. Nachdem ihr Vater abhandengekommen ist, ihre Mutter mit einem neuen Mann das Schlafzimmer teilt, ist Ty auf der Suche nach seiner Identität und einem Vorbild. Ein Motiv, das sich durch alle neun Kurzgeschichten zieht.
Für einige Seiten öffnet sich eine Tür
Oder nach einer anderen Familie, wie bei der Kurzgeschichte um Freddy. Einem kleinen Jungen, der die Gabe besitzt, sich in unangenehmen Situationen in einen Roboter zu verwandeln. Um bei einer weißen Gastfamilie zu sein, macht Freddy zum ersten Mal bei einem Ausflug mit. Doch statt wie die Jahre davor in ein großes Haus von einer weißen, reichen Familie, bei der es jeden Tag Steak vom Grill gibt, geht es diesmal zusammen mit den anderen Kindern zu einer alleinstehenden Frau. Sie ist schwarz. Freddy kann seine Enttäuschung nicht verstecken. Die Frau, das Haus - alles erinnert ihn an seine eigene Mutter, an sein eigenes Zuhause, seine eigene Identität. An all das, wovor Freddy im Camp entfliehen wollte.
Die Charaktere und Beziehungen untereinander sind so miteinander verwoben, dass sie nicht in gerader Richtung laufen. Sie sind so vielschichtig, dass sie zu verschwimmen scheinen, wenn sie nebeneinanderstehen. Jede Geschichte hat ihren eigenen Dreh, ihre eigene Sehnsucht. Die Figuren wirken echt. Authentisch. Doch durch die Komplexität, die auf wenigen Seiten aufgebaut wird, die männliche Sicht und einer gewissen Schwere ähneln sie einander doch.
In der Literaturszene ist gerade ein Trend zu weiblichen Protagonistinnen zu beobachten. Dass Brinkley also ein Buch veröffentlicht, das fast ausschließlich die männliche Perspektive einnimmt, mag schon geradezu ungewöhnlich erscheinen. Doch die Charaktere sind fein konzipiert, ihre sexualisierte Sicht auf Frauen mag nicht politisch korrekt sein, klingt aber nachvollziehbar.
Jamel Brinkley schließt seine Geschichten weder mit einem Happy End ab, noch enden sie tragisch. Es ist so, als ob er den Leser in seine Figuren lässt, auf wenigen Seiten eindringen lässt, doch dann die Tür wieder schließt und die nächste Geschichte beginnen lässt. Brinkley schreibt aktuell an Kurzgeschichten und einem Roman - mit Frauen und Männern. Mehr wird noch nicht verraten.