Stefanie Sommer

Journalismus-Studentin | FAZ, Mainz

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Aktenzeichen A262 nach wie vor ungelöst

Schon seit den 90er Jahren soll an der Mainzer Ludwigsstraße ein Einkaufsquartier entstehen. Nach langem Hin und Her sind die Pläne zwar mittlerweile fertig und die Stadt mit dem aktuellen Investor zufrieden. Das Licht am Ende der Lu ist aber noch nicht zu sehen.

 

Im klassischen Monopoly ist das höchste der amateur-bauherrlichen Gefühle der Besitz der begehrten Schlossallee. In Mainz heißt das Äquivalent Ludwigsstraße. Zwar kostet die etwas mehr als 8.000 Mark und bei ihrer Akquise muss man sich mit Dingen wie Stadtverwaltungen, Baurecht und Bürgerinitiativen herumschlagen. Gezofft wurde sich um sie wie im Spiel trotzdem ausführlich. 

 

Zumindest der Streit um das künftige Shoppingquartier scheint beigelegt zu sein. Die Stadt ist mit dem Investor, dem Ingelheimer Baumogul Gemünden, zufrieden. Angeblich kommt man gut voran und die zänkische Bürgerinitiative zankt nicht mehr. Ende gut, alles gut? Noch nicht. 

 

Gemünden hat große Pläne für das ehemalige Karstadt-Areal an der Lu, wie die Straße im Mainzer Volksmund heißt. Ein „abwechslungsreicher Erlebnisort” soll es werden, ein „Mix aus modernem Handel, neuen kulturellen Highlights und vielseitiger Genussgastronomie”. 10.000 Quadratmeter Verkaufsfläche, Pop-up-Halle, begrünte Dachterrasse, Rooftop-Bar mit Domblick, Konzertsaal, 4-Sterne-Hotel. Eben ein Ort, der dem Trend zum bequemen Online-Shopping (vielleicht) etwas entgegensetzen kann. Denn dass das klassische Kaufhaus nicht mehr zeitgemäß ist, zeigt die jüngste Geschichte deutlich. 

 

Das aktuelle Konzept berücksichtigt auf jeden Fall eher die Wünsche der Bürger und der Stadt als der monolithische Klotzbau, den der ursprüngliche Investor ECE plante. Trotzdem, hochgesteckte Ziele sind es allemal. Nur zwei Ankermieter stehen nach Angaben von Gemündens für das Projekt gegründeter Firma Boulevard Lu bislang fest: das Staatstheater und die Sportkette Engelhorn. Für den Bauabschnitt des alten Karstadt-Areals liegt noch nicht mal das Baurecht vor. Trotzdem versprach OB Nino Haase im April optimistisch: 2026 ist es fertig. Also noch mal fünf Jahre später als 2017 von Gemünden angekündigt.

 

Schauen wir einmal am Ort des Geschehens vorbei. „Die Zukunft im Blick” - so steht es auf dem großen Bauzaun, der momentan das Areal des Bauabschnitts Fuststraße abschirmt. Daneben futuristische Abbildungen, wie das „LU:Quartier” einmal aussehen soll. Die „pulsierende Achse der Stadt” kündigt ein weiteres Plakat an. Momentan pulsiert hier noch nichts. Zumindest haben an der Fuststraße die Abrissarbeiten bereits letzten Sommer begonnen – für einige Monate. Momentan liegt die riesige Baugrube nahezu verwaist da. Denn seit April graben hier Archäologen auf der Suche nach historischen Schätzen. Boulevard Lu erwartet, dass in der zweiten Jahreshälfte mit dem Hochbau begonnen werden kann. Am alten Karstadt-Areal nebenan solle es vielleicht Anfang 2024 losgehen.

 

Ob das Projekt bis 2026 wirklich fertig sein wird, bezweifeln mit Blick auf die bisherige Odyssee viele – reicht die Leidensgeschichte an der Lu doch bis in die 90er Jahre zurück. Schon damals gab es erste Pläne für ein neues Einkaufszentrum, konkret wurden diese 2011 mit dem Verkauf des Karstadt-Gebäudes an den auf Shoppingmalls spezialisierten Hamburger ECE-Konzern. Dessen Pläne für einen 30.000 Quadratmeter großen Konsumtempel stießen bei den ansässigen Einzelhändlern jedoch auf Protest und veranlassten die Gründung der Bürgerinitiative. Es folgten Jahre der Diskussionen. In sieben Ludwigsstraßen-Foren verhandelten die verschiedenen Interessengruppen Leitlinien etwa zur Sichtachse zwischen Schillerplatz und Dom, dem Verkehrsanschluss und potenziellen Plätzen für Rolltreppen.

 

Im Oktober 2012 ebnete der Stadtrat per Grundsatzbeschluss schließlich den Weg für das Einkaufszentrum – die Geburt des Bauleitplanverfahrens A 262. Bei der Umsetzung stieß ECE allerdings auf Probleme. Es gelang ihnen nicht, für die großflächige Umgestaltung notwendige Grundstücke zu erwerben. Eines der fraglichen Gebäude – das Areal der Deutschen Bank – sicherte sich stattdessen die Gemünden-Tochter J. Molitor Immobilien gemeinsam mit der Sparkasse Rhein-Nahe. Nachdem ECE 2017 endgültig ausstieg, sprang auch hier Gemünden in die Bresche und übernahm das Karstadt-Gebäude. Weitere eineinhalb Jahre vergingen, bis ein neues Nutzungskonzept vorlag. Das fand bei der Neuauflage der Bürgerforen im August 2019 durchaus Anklang. Auch dass beim anschließend ausgelobten Architekturwettbewerb eine Gemeinschaft aus Mainzer Architekten siegte, kam gut an. Der langjährige Ankermieter Karstadt schloss seine Pforten im Herbst 2020, daraufhin zog der Pop-up-Store „lulu” als Übergangslösung ein. Dieser Übergang dauert bis heute. 

 

Trotzdem zieht Gemünden im Hinblick auf den bisher zähen Verlauf eine positive Bilanz: Vor dem Hintergrund, dass ein so komplexes Projekt viele Abstimmungen und ein hohes Invest und Risiko bedeute, könne man die „Entwicklung innerhalb von wenigen Jahren durchaus als dynamisch bezeichnen”.

 

Das gleiche hören wir vom Mainzer Baudezernat: Die Planung sei „zeitlich und inhaltlich sehr gut vorangekommen”. Der Optimismus hat Gründe: Mit Wohnanlagen wie dem Rodelberg, dem Gartenquartier oder Hildegardis hat Gemünden in Mainz schon andere Großprojekte realisiert. Das lässt hoffen. Fragt sich nur, warum dann zumindest auf der Infowebseite der Stadt seit 2019 Stillstand herrscht. Hat sich seitdem nichts getan oder will man nur nicht sagen, was (nicht) passiert? Eine Pressesprecherin teilt uns mit, dass man nach „geringfügigen Modifikationen innerhalb des geplanten „LU:“- Komplexes” aktuell wieder am Bebauungsplanentwurf arbeite. Unter einem beigefügten Link finden wir auf einmal auch über 20 Dokumente, versteckt in einem unübersichtlichen Bürgerinformationsportal. Klare Kommunikation geht anders. Dabei lobt sich die Stadt für die Bürgerbeteiligung in diesem Projekt selbst in den höchsten Tönen – die Ludwigsstraßenforen seien einMeilenstein” gewesen. Gleichwohl muss sie einräumen, dass „öffentliche und private Belange untereinander und gegeneinander gerecht abzuwägen” seien. Schließlich liege die konkrete Umsetzung der Baumaßnahmen beim Investor, der auch die Kosten trage, weist die Stadt die Verantwortung von sich. Die genaue Summe lässt sich übrigens weder dem Baudezernat noch Boulevard Lu entlocken, Schätzungen belaufen sich auf einen niedrigen dreistelligen Millionenbetrag.

 

Hartwig Daniels war dabei, als vor über zehn Jahren das Karstadt-Gelände an ECE verkauft wurde. Nur einen Monat später gründeten er und einige andere die Bürgerinitiative Mainzer Ludwigsstraße. Damals war er Anfang 60, ein weißhaariger, agiler Frisch-Rentner, der auf keinen Fall einen dieser „ECE-Kolosse” in seiner Stadt haben mochte. Eine Aufwertung der Innenstadt habe man gewollt, aber eben eine kleinteilige Lösung, die sich „an die historische Stadtstruktur der Altstadt anlehnt”. Die Einbeziehung der Mainzer, die gemeinsame Ausarbeitung von 80 Leitlinien für das Bauvorhaben nannte er damals ähnlich der aktuellen Formulierung der Stadt einen „einzigartigen Fall von Bürgerbeteiligung”. Heute ist Daniels Mitte 70, immer noch weißhaarig, immer noch agil, aber dafür desillusioniert: Die Leitlinien? In den Verhandlungen mit ECE aus dem Fenster geworfen. Die Bürgerbeteiligungen unter Gemünden? Eine Farce. Trotzdem existiert die Initiative heute offiziell nicht mehr. Von den 380 Mitgliedern, die es einmal waren, sei nur noch der aktive Kern übrig, der die Entwicklungen weiterhin kritisch beobachte. Vom aktuellen Konzept hält Daniels nicht viel: „Anscheinend soll Mainz fortan auf den Dächern eines Einkaufszentrums leben, statt auf seinen Plätzen”. Die Stadt habe sich vollkommen aus den Planungen zurückgezogen, was bleibe, sei „Investorenstädtebau”. Seine Kritik scheint valide. Dass er und seine Initiative aber durch wenig Kompromissbereitschaft und immer neue Nörgeleien den Bauprozess mit aufgehalten haben, lässt sich nicht ganz abstreiten.

 

Und was will die Mainzer Bevölkerung, für die das „LU:Quartier“ schließlich gebaut werden soll? Wir sind zurück an der Ludwigsstraße und hören uns um. Dass die Stadt an dieser Stelle eine Aufwertung braucht, steht außer Frage. Nur die Vorstellungen, was genau in das Einkaufsareal soll, gehen auseinander. Während junge Menschen wie Johannes (33) und Karla (26) sich dem “lulu” ähnliche Konzepte mit Fokus auf Regionalität und Nachhaltigkeit (“Bitte keine Ketten”) wünschen, stören sich ältere Mitbürger an den Plänen für Pop-up-Halle und Dachterrasse. Eine “schöne Markthalle mit Obst und Gemüse” wäre Günter (80) lieber. Wie man zum “LU:Quartier” steht, ist wohl auch eine Generationenfrage.

 

Unterm Strich steht fest: Gemünden macht vieles besser als ECE. Aber auch nicht alles. Die Stadt stärkt dem lokalen Großbauherren den Rücken. Trotzdem: Das weitere Schicksal von A262 ist immer noch nicht ganz gewiss. Im echten Leben ist die Sache mit dem Bauen eben nicht so einfach wie in Monopoly. Und wer weiß, welche unerwarteten Ereigniskarten in den nächsten Jahren noch aufgedeckt werden.

 

Diese Newsstory entstand in Zusammenarbeit mit Luisa Kretzschmar im Rahmen des Kurses "Magazinjournalismus" im Master-Studiengang am Journalistischen Seminar Mainz.