Stefanie Sommer

Journalismus-Studentin | FAZ, Mainz

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Vom Glück der (H)Erde

Die Schäferei ist eines der ältesten Gewerbe der Welt. Und für Hans-Dieter Wahl der schönste Beruf, den er sich vorstellen kann – trotz niedrigem Gehalt, wenig Freizeit und Zukunftssorgen.


Es ist ein kühler Nachmittag Mitte Oktober in Welzheim. Hans-Dieter Wahl hält seine Nase in die frische Luft. Lehnt sich ein Stück weiter auf den langen Stab in seiner Hand. Sein Blick schweift über die große Wiese vor ihm, auf der sich ein Meer aus weißen wolligen Vierbeinern erstreckt. Friedlich grasend ziehen die Schafe langsam über die Weide. Ein großer schwarzer Hund dreht seine Runden um die Herde. Wahl lächelt zufrieden. Alles in Ordnung.


Äußerlich könnte Hans-Dieter Wahl gar nicht mehr der allgemeinen Vorstellung eines Schäfers entsprechen: Der lange Stab in seiner Hand, die Schäferschippe, ist Wahrzeichen und Werkzeug seiner Zunft. Ein typisches Schäferhemd, ein Überwurf in Wald-und-Wiesen-Farben, schützt seine Kleidung darunter vor Wind und Wetter. Gummistiefel sowie ein brauner Filzhut komplettieren den Look. Über einem grauen Vollbart funkeln zwei wache blaue Augen. Aber am auffälligsten sind wohl die drei kleinen goldenen Stecker in Form von zwei Schafen und einer Schäferschippe, die links und rechts seine Ohrläppchen zieren. Hans-Dieter Wahl ist Schäfer mit Leib und Seele.


Die Leidenschaft dafür wurde ihm in die Wiege gelegt: Wahl wurde 1966 in der Nähe von Schwäbisch Gmünd in den Familienbetrieb und die Wanderschafzucht hineingeboren. Bereits sein Großvater nahm ihn als Kind schon mit zu seiner Herde. Nach dem Schulabschluss folgte die dreijährige Ausbildung zum Landwirt und Fleischer. Im Alter von 20 Jahren übernahm Wahl den Hof von seinem Vater, der Ende der 80er Jahre früh starb. Auch wenn er sich bisher eher in der Fleischerei als auf der Weide gesehen hatte, entschied er sich für den Betrieb und die 800-Schaf-starke Merinoherde. „Das ist Mittelmaß“, fügt Wahl bescheiden hinzu, „es gibt Schäfer, die haben über 2000“. Aber er ist zufrieden mit dem, was er hat und tut, bezeichnet es als „kleine Berufung“. „Und's machd oifach Schbaß“, fügt er in ureigener schwäbischer Gemütlichkeit hinzu.


Darauf kommt es auch an, reich wird man als Schäfer nicht. Würde Wahl seinen Lohn ausrechnen, käme er auf etwa sechs bis sieben Euro die Stunde. Doch solche Überlegungen scheren ihn nicht: „Als Landwirt darf man nicht aufs Geld achten“. Und das bei oft schwierigen Arbeitsbedingungen: Wahl ist bei Wind und Wetter draußen, vor allem in der Lammzeit im Frühjahr oft über neun Stunden am Tag. Dafür muss man gemacht sein.

 

Ebenso wie für das lange Alleinsein auf der Weide. Das stört Wahl nicht, Schafe hüten, heißt für ihn, die Seele baumeln zu lassen. In den vielen Stunden, die er täglich draußen sei, habe er Zeit, um „runterzukommen und zu entspannen“. Besonders schön sei es im Sommer, wenn er mit seiner Herde zur Sommerweide nach Kirchheim-Teck zieht. Bei dieser Vorstellung glimmt ein kleines Lächeln in seinen Augen auf. Es lässt einen genügsamen Menschen erahnen, der mit sich und der Welt im Reinen ist.


Die der Schafe eigene Sanftmütigkeit findet sich auch in Wahls Wesen wieder. Er wählt seine Worte behutsam, aber knapp, denkt länger über Formulierungen nach, seine halbe Aufmerksamkeit liegt dabei immer auf der Herde und den Hunden. Eine Versunkenheit, in der sich ein Mensch erkennen lässt, der sich ganz einer Aufgabe verschrieben hat, ohne jemals viel darüber reden zu müssen. Einzig wenn es um die Felle seiner Zotteltiere geht, purzeln die Worte nur so aus dem Mund des Zweiten Vorsitzenden der Baden-Württembergischen Wollerzeugergemeinschaft. Es ist seine persönliche Mission, die Anerkennung für und den Verkauf von Wolle im Land sowie die regionale Wertschöpfung wieder zu steigern.


Schließlich kommt der Pelz direkt von seinen Schafen und die liegen ihm am Herzen. Alle 800 von ihnen kann er anhand der Gesichter voneinander unterscheiden, stößt einem etwas zu, geht ihm das nah. Doch übermäßig romantisieren tut er die Beziehung auch nicht, einen Namen hat keiner von seinen wolligen Schützlingen, Wahl ist nicht der rührselige Typ. Denn am Ende des Tages sind sie Nutztiere. Und Wahl schlachtet sie für den Verkauf des Fleisches selbst. Etwas, worauf er sehr stolz ist, denn es sei ihm wichtig, dass es seinen Tieren in Leben und Tod gutgeht. Diese Fürsorge erstreckt sich nicht nur auf Vier- sondern auch auf Zweibeiner. In seiner knapp bemessenen Freizeit besuche Wahl gerne andere Schäfereien und sei immer sofort zur Stelle, wenn jemand Hilfe brauche – manchmal auch auf Kosten seines eigenen Hofes, sagt seine Tochter Lea (27).


Die Herde ist mittlerweile ein Stück weiter die Weide in Welzheim hochgezogen und Wahl folgt ihnen gemächlichen Schrittes. Sein Altdeutscher Schäferhund Freddy, selbst von Wahl ausgebildet, dreht seine Runden und sorgt dafür, dass etwaige Ausreißer, die dem angrenzenden Feldweg zu nah kommen, schnell wieder zurückgetrieben werden. Dazu reicht ein Wort von Wahl und Freddy flitzt los. Zu den Füßen von Wahl sitzt ein zweiter Hund. Pius ist acht Jahre alt – für einen Hütehund bereits Beginn des Rentenalters – und daher nicht mehr so triebig wie Freddy. Mit zu den Schafen möchte er trotzdem noch und Wahl tut ihm gerne den Gefalle. „Der Hund ist für den Schäfer die halbe Miete – ohne ist man auf verlorenem Posten“, sagt er.


Das wäre er auch ohne die Mithilfe seiner Familie auf dem Hof. So kümmert sich seine Frau etwa um die logistischen Angelegenheiten: „Eigentlich ist sie der Kopf hinter der ganzen Sache“, schmunzelt Wahl. Die Kinder helfen beim Hüten, Tochter Lea bereitet sich momentan darauf vor, den Betrieb eines Tages von ihrem Vater zu übernehmen. Die Fortführung dieser Tradition ist Wahl wichtig, denn sein Beruf verändert sich: „Familienbetriebe sterben immer weiter aus“. Der Landesschafzuchtverband Baden-Württemberg zähle 600 Mitglieder – nur 120 davon seien noch Berufsschäfer:innen, erzählt Wahl und seine gutmütige Stimme klingt zum ersten Mal bitter.


Nachwuchsprobleme sind nicht die einzigen: Wahl spricht von zugebauten Weideflächen und mangelnder Anerkennung und Unterstützung aus der Politik. Zum Beispiel für die Landschaftspflege, die seine Herde im Sommer auf den Weiden betreibt, für die er von der EU aber noch nicht mal den Mindestlohn bekäme. Ein anderes Thema ist die Rückkehr des Wolfes. „Ich habe nichts gegen ihn“, sagt Wahl, „aber wenn er bleibt, muss es ein besseres Miteinander geben.“ Denn richte Isegrim in seiner Herde Schaden an, wer komme dann dafür auf? „Der Wolf hat schließlich keine Haftpflichtversicherung“. Das ist eine Feststellung, kein Vorwurf. Wahl ist kein Typ, der sich groß aufregt und auf „die da oben“ schimpft.


Nach neun Stunden auf der Weide steigt Hans-Dieter Wahl in seinen Wagen und fährt zu seinem Hof in Eberhardsweiler zurück. Momentan ist das noch ein kurzer Weg, doch bald wird er wieder weiter, wenn er mit seiner Herde erst auf die Herbstweide in Richtung Ulm und dann zur Winterweide nach Bissingen zieht. „Ist halt so als Wanderschäfer“, brummt Wahl und dreht das Autoradio lauter. SWR4. Schlager sind seine Lieblingsmusik.


Wahls Hof ist klein, aber ordentlich. Lediglich einige vertrocknete Pflanzen am Wegesrand deuten an, dass auch die dem Schäfer eigene Fürsorge irgendwo ein Ende findet. Im Wohnhaus wartet seine Familie mit dem Abendessen. Danach legt er gerne die Füße hoch – zum „Chillen“. Denn auch in seiner Freizeit mag er es ruhig. Am liebsten schläft er. Im Schäfchen zählen ist Wahl schließlich ein Profi.


Dieses Langporträt entstand im Rahmen des Kurses "Magazinjournalismus" im Master-Studiengang am Journalistischen Seminar Mainz.