Stefanie Sommer

Journalismus-Studentin | FAZ, Mainz

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Reportage

Wo „Wein, Weib und Gesang“ noch „in“ ist

2 Meter breit, 144 Meter lang, weltbekannt: Die Drosselgasse in Rüdesheim am Rhein ist Treffpunkt für Besucher aller Nationalitäten. Das Kitschklischee deutscher Lebensfreude und Weinseligkeit wird hier verkauft – das wirkt teils ziemlich eindimensional.


Es ist bestimmt die dritte Wagenladung amerikanischer Flusskreuzfahrt-Touristen innerhalb von zehn Minuten, die gerade an der Oberstraße in der Nachmittagshitze dieses Junitages aus dem grün-weißen Bimmel-Bähnchen steigt. Laut schwatzend macht sich der Ü-50-Trupp aus Cargo-Shorts mit Sandalen auf den – zugegebenermaßen sehr kurzen – Weg zu seiner Destination: die Drosselgasse. Beim Einbiegen in die kleine Straße kündigt die Frau von der Reiseleitung, leicht zu erkennen am knallroten T-Shirt und dem Klemmbrett im Arm, auf Englisch euphorisch an: „You’re gonna sit at the nicest place you’ve ever sat.“


Der schönste Ort, an dem man je gesessen hat. Das weckt Erwartungen. Verfehlen kann man die Drosselgasse glücklicherweise nur schwer. An beiden Enden des 144 Meter langen Kopfsteinpflaster-Sträßchens, das als einer von sechs Wegen die Rüdesheimer Rheinpromenade mit der Oberstraße verbindet, künden Schilder und bunte Wandbilder von Rüdesheims größter Attraktion. Einmal in der Gasse drin, kommt man sich ein wenig vor wie in einer anderen Welt. Als sei man in einem Freizeitpark geradewegs in den Themenbereich „Deutschland“ gestolpert. Fachwerkhäuser reihen sich an Biergärten und Cafés, Markisen, Lichterketten und Weinreben ranken sich über den Köpfen der Menschen. An den teils historischen Fassaden der gedrungenen Häuser hängen geschnitzte Figuren und eiserne Schilder mit Wein- und Jagd-Motiven. Die meisten Gaststätten haben ihre Türen und Fenster zur Straße hin weit offen stehen, Wirtinnen im Dirndl huschen umher. Trotz des Umstandes, dass bis August offiziell noch Nebensaison ist, ist die Gasse um diese Uhrzeit schon sehr belebt.


In einem Eiscafé lässt sich gerade eine englische Touristengruppe nieder, auf der Treppe davor ruht sich eine französische Familie aus. Nur ein paar Schritte weiter bricht eine asiatische Mädchengruppe beim Versuch, sich selbst und die Straße auf ein Selfie zu bekommen, in Kichern aus. In der Luft liegt eine wilde olfaktorische Mischung aus Bier, Wein, Blumen, Fleisch und alten Möbeln. Auf den Menüs der meisten Gaststätten steht das gleiche: Bier, Wein, der berühmte Rüdesheimer Kaffee (Kaffee mit Asbach Uralt und Sahne) – und vor allem sehr viele Schnitzel in allen erdenklichen Variationen. Die vegetarischen, geschweige denn veganen, Zeitgenossen kommen hier nicht auf ihre Kosten. Das viel diskutierte Zigeunerschnitzel heißt hier übrigens noch genau so. Aus den Läden dudelt Remmidemmi-Humtata-Musik: Englische Oldies, Schlager, Ballermann-Hits. Dazu wird später am Abend gesungen, getanzt und geschunkelt, während der Rheingauer Riesling nur so in Strömen fließt.


Das Phänomen Drosselgasse findet weltweit Anklang. 2003 belegte sie im Ranking des Deutschen Tourismusverbandes Platz zwei der beliebtesten deutschen Sehenswürdigkeiten – nur übertrumpft vom ewigen Publikumsliebling, dem Kölner Dom. Mittlerweile erreicht sie zwar nicht mehr solche Top-Platzierungen. Trotzdem kommen jährlich rund drei Millionen Touristen hierher. Die Hälfte von ihnen ist aus dem Ausland. Besonders Amerikanern und Asiaten hat es die Gasse angetan, doch auch Besucher aus Skandinavien und den Benelux-Ländern lassen die Kassen der ansässigen Wirtshäuser klingeln.


Seinen internationalen Gästen erfüllt Rüdesheim alle Kitschklischees eines alkohol- und feierseligen Deutschlands. Die Butzenscheibenerker der Drosselgasse tragen Sinnsprüche wie: „Wer als Philister lebt auf Erden, kann auch im Himmel nicht selig werden.“ Ein Lokal zeigt auf einem geschnitzten Relief zwei Betrunkene, die an den Hauswänden Halt suchen, was mit dem Satz „Das Gässlein Gott sei Dank ist schmal“ quittiert wird. Und in einem anderen Weinwirtshaus steht unter dem Bildnis einer halbnackten Frau die epikureische Erkenntnis: „Wer nicht liebt Wein, Weib und Gesang, bleibt ein Narr sein Leben lang.“


Das Klischee gibt es auch zum Mitnehmen: Denn zwischen den Gaststätten haben sich zahlreiche Souvenir- und Geschenkläden angesiedelt. Schaufenster und Regal borden über mit allem, was das amateur-touristische Herz begehrt: Nussknacker, Dirndl, Kuckucksuhren, Weihnachtsdeko, Kappen, T-Shirts. Aus den Augen ausländischer Gäste betrachtet, besteht Deutschland aus nichts anderem als Weißbiergläsern mit Loreleyfelsen, Zinnbierkrügen mit Preußenadler, und Gartenzwergen im Nikolauskostüm. Wer kauft das alles? „Vor allem Asiaten und Amerikaner“, verrät die Verkäuferin. Besonders beliebt seien der Weihnachtsbaumschmuck und die Bierhumpen. Deutsche Touristen würden dagegen eher die Augen verdrehen angesichts der schmerzhaften Akkumulation an deutschen Stereotypen.


Die Drosselgasse ist das unbestrittene Herz der Altstadt. In den Rest des Ortes verirren sich dagegen nicht so viele. Wie auch die Gruppe amerikanischer Touristen zieht es die meisten Besucher direkt in die Drosselgasse. Vom Schiff (oder Bus) direkt an die Theke sozusagen. Dabei ist auch der Rest des 10.000 Einwohner-Ortes im Mittelrheintal nicht zu verachten. Eine altertümliche Seilbahn führt über Weinberge zum berühmten Niederwalddenkmal und auch außerhalb der Drosselgasse gibt es allerlei hübsche Fachwerkhäuser, Plätze und Cafés. Doch die meisten von ihnen sind an diesem Tag ausgestorben, nur eine Handvoll Menschen ist auf den Straßen jenseits der Altstadt unterwegs. Für die gerade Ankommenden weisen Schilder direkt den Weg zum Ort des Begehrens: „Nur drei Minuten bis zur Seilbahn. Nur fünf Minuten bis zur Drosselgasse.“ alles andere scheint vernachlässigbar. Am Busparkplatz steht an der Wand eines Hauses „Herzlich Willkommen in Rüdesheim“. Das „H“ und das „R“ sind verblasst. Viele Fassaden in den umliegenden Straßen sind rissig, einige Läden stehen leer. Die meisten Straßen liegen ausgestorben da – nur einige Hundert Meter weiter steppt dagegen der Bär.


Warum die Drosselgasse diesen Namen trägt, ist nicht ganz bekannt. Manche munkeln, er käme von der Weindrossel, die den Winzern gerne die wertvollen Trauben stibitzt. Eine andere Erklärung stützt sich darauf, dass laut alten Quellen die Gasse 1650 „Druschelgasse“ hieß – Mundart für „plumpes Frauenzimmer“. Zwar hat sich die Welt und vor allem die Sicht auf Frauen in den letzten 373 Jahren zum Glück sehr geändert. In dieser Straße aber anscheinend weniger als andernorts.


Ein Beispiel dafür ist die „Quetschkommod“, eins der in der Gasse ansässigen Lokale. Der Name stammt von den vielen Akkordeons in jeglichen Farben und Formen, mit denen der urige Laden bis in die hinterste Ecke dekoriert ist, und die früher scherzhaft so genannt wurden. Sie verströmen einen etwas muffigen Geruch, der sich mit Staub, Bier und Holz zu einem herben Aroma mischt. Neben den Musikgeräten prägen das Interieur der über 30 Jahre alten Kneipe, die sich selbst „Erlebniswirtschaft“ nennt, Vintage-Bilder von alten Motorrädern und Autos an den hölzernen Wänden. Wahlweise auch gerne mit Zeichnungen von üppig bebusten, knapp bekleideten Frauen. In einer Ecke ist die Figur einer im Pin-Up-Stil gekleideten Kellnerin angebracht. „Der Besitzer sammelt halt viel“, erklärt Miranda, die hinter der Bar steht und Aperol Spritz zubereitet. Angesprochen auf die teils schon fast lächerlich veraltet sexistische Dekoration, lacht sie. „Das gehört eben dazu. Ich finde das absolut nicht schlimm.“ Die Kunden würden die „Quetschkommod“ gerade für dieses Ambiente schätzen. Dass so viele Motorradmotive die Wände zieren, ist auch kein Zufall. Seit Jahren findet in Rüdesheim das jährliche „Magic Bike“-Treffen statt, zu dem Tausende von Motorrad-Fans aus dem ganzen Land in den kleinen Ort am Rhein kommen. Viele von ihnen sind Stammkunden in der „Quetschkommod“.


Ähnlich sieht es im schräg gegenüberliegenden Restaurant „Bei Hannelore“ aus. Die Raufaser-Wand ist übersät mit Bildern von Trinksprüchen – eines verkündet etwa die Weisheit „Das Trinkgeschirr, sobald es leer, macht keine rechte Freude mehr“. Daneben hängen Fotos längst vergangener geselliger Abendrunden. Auf den meisten sind Männern abgebildet. In einer Ecke ist eine kleine Bühne aufgebaut. Live-Musik wird hier in fast jedem Lokal angeboten. Anna, die bei „Hannelore“ als Bedienung arbeitet, schwitzt in ihrem Dirndl sichtlich. „Aber es ist Tradition, dass wir das tragen, deshalb kommen die Gäste ja auch her“, sagt die 39-Jährige. Und fügt hinzu: „Wir verkaufen hier eben ein ganz bestimmtes Bild von Deutschland.“ Dann muss sie weiter. Ein grölender Junggesellenabschied am Tisch am Fenster verlangt nach ihrer Aufmerksamkeit.


Die Drosselgasse übt eine große Faszination auf ihre internationalen Besucher aus. Thomas und Lauren aus Dallas, Texas, sind zum ersten Mal hier, sie kommen frisch von Bord ihres Flusskreuzers. Gerade stehen sie vor der „Quetschkommod“ und studieren die Speisekarte. „Look, they’ve got Jägerschnitzel“, sagt Thomas. Damit ist die Sache dann auch beschlossen. „Malerisch“, finden die beiden Amerikaner die Gasse. Zwar sei ihnen bewusst, dass das sorgfältig kuratierte Ambiente nicht ganz Deutschland repräsentiere und teils etwas übertrieben ist. Das wissen sie aber auch nur, weil sie vor der Rhein-Kreuzfahrt Berlin besichtigt haben.


Erstmalig urkundlich erwähnt wurde die Drosselgasse mit ihren Steinmauern, Innenhöfen und charakteristisch schmalen Hausfluren im 15. Jahrhundert – damals als Unterkunft für Rheinschiffer. In den folgenden Jahrzehnten entwickelten sich daraus richtiggehende Schifferdynastien. Drei bis vier Jahrhunderte später eröffneten die ersten Winzergasthäuser und Straußwirtschaften, was anfangs besonders Mitglieder der besser situierten Gesellschaft anlockte. Selbst Johann Wolfgang von Goethe, ließ sich 1814 auf einer seiner Reisen einen Abstecher in die Drosselgasse nicht nehmen. In den folgenden Jahrzehnten avancierten die Lokale zu beliebten Ausflugszielen. Der „Drosselhof“, das älteste rheinfränkisch erbaute Gasthaus vor Ort, buhlte mit Live-Musik um die Aufmerksamkeit der Kundschaft und ließ zu diesem Zweck sogar eigene Trinklieder schreiben. Damit wurde er zum Vorreiter dessen, was wir heute Massentourismus nennen. Kompositionen à la „Rüdesheimer Wein / Schöne Mägdelein / Sind des Glückes A und O / Drum, Freund, ich denke so: / Lieb dein Leben lang / Wein und Becherklang / Und die hübschen Mägdelein / Schließ tief ins Herze ein“ ließen das Rüdesheimer Nachtleben boomen. Und fassen noch heute die Quintessenz des Treibens in der Drosselgasse zusammen. Dass die Drosselgasse auch in Zeiten des Nationalsozialismus ein beliebtes Ausflugsziel, etwa für die Freizeitorganisation Kraft durch Freude, war, sei hier nur am Rande erwähnt. Der damaligen Verfügung, es solle hier nur „eine dem deutschen Empfinden entsprechende Musik aufgeführt“ werden, wird bewusst oder unbewusst auch heute noch nachgekommen.


Die Stimmung in der Drosselgasse ist einmalig. Trotz des massentouristischen Images liegt der Reiz für viele in der Mischung aus Lebendigkeit, Unbeschwertheit der Leichtigkeit des Lebens und dem Privileg der Gedankenlosigkeit. Denn darüber, was hinter dieser klischeehaften Inszenierung einer ganzen Straße steckt, machen sich die meisten Besucher keine Gedanken. In der Drosselgasse ist seit den Jahren der goldenen Rheinschifferei, seit Segler und Matrosen die Theken bevölkerten und nach „Wein, Weib und Gesang“ verlangten, gefühlt die Zeit stehen geblieben. Auch die „woke“ innere Stimme macht hier Pause an der Theke.

 

Diese Reportage entstand im Juni 2023 im Rahmen des Kurses "Magazinjournalismus" im Master-Studiengang am Journalistischen Seminar Mainz.