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Herner Mutter: „Plötzlich hatten wir ein behindertes Kind"

Foto: Olaf Fuhrmann / FUNKE Foto Services

Herne. Sophie (2) aus Herne hat eine sehr seltene Krankheit - die erst lange nach der Geburt erkannt wurde. Wie ihre Eltern damit umgehen.

Die Schaukel im Garten ist Sophies Lieblingsort. Wenn sie durch die Luft fliegt, strahlt sie über das ganze Gesicht und fängt laut an zu lachen. „Sophie ist unser Sonnenschein", sagt Tanja Hoffmann. Wenn sie ihre 2,5-jährige Tochter so glücklich sieht, vergisst auch sie all die Sorgen und den Stress.

KCNQ2. Diese Buchstaben-Zahlen-Kombination bestimmt das Leben der Hoffmanns. Sophie hat einen Gendefekt, der so selten ist, dass es für ihn nicht mal einen richtigen Namen gibt. Insgesamt haben in Deutschland laut Bundesgesundheitsministerium rund vier Millionen Menschen eine seltene Krankheit.

Das heißt, dass nicht mehr als fünf von 10.000 Menschen von dieser Erkrankung betroffen sind. Das Problem: Es gibt meist wenig Forschung und Therapiemöglichkeiten. Wie geht man als Eltern damit um, wenn die Krankheit des Kindes keinen Namen hat? Und wie schafft man es, sich angesichts der Herausforderungen als Paar nicht zu verlieren?

„Die Schwangerschaft war völlig unauffällig", erinnert sich Tanja Hoffmann. Doch schon zwei Wochen nach der Geburt endet das sorglose Babyglück. Sophie hatte ihren ersten epileptischen Anfall, der erst Monate später als solcher erkannt werden sollte. Das Köpfchen selbstständig halten, greifen, drehen: Auch all die Meilensteine der Entwicklung blieben aus. „Als Sophie ein halbes Jahr alt war, wurden die Ärzte dann auch stutzig und haben uns gesagt: Da scheint etwas nicht zu stimmen."

Was genau „nicht stimmte", das konnte trotz Blutanalysen und MRT lange nicht herausgefunden werden. „Die Ungewissheit war das Schlimmste", sagt Tanja Hoffmann. Kurz nachdem Sophie ihren ersten Geburtstag gefeiert hatte, brachte ein Termin in der Uniklinik Münster endlich Klarheit: Mithilfe einer sogenannten Exom-Analyse wurde der Gendefekt erkannt. In Deutschland sind gerade mal 70 weitere Fälle davon bekannt.

Bei Sophie führt der Fehler im KCNQ2-Gen dazu, dass sie eine schwere Entwicklungsstörung hat, geschwächte Muskeln, Epilepsie - und mit Stufe 5 den höchsten Pflegegrad. Sie kann nicht sitzen, nicht krabbeln, nicht sprechen. Ob sie diese Fähigkeiten jemals erlernen wird, ist unklar. „Mit der Diagnose hatten wir gefühlt plötzlich von heute auf morgen ein teils schwerstbehindertes Kind. Das hat uns im ersten Moment natürlich den Boden unter den Füßen weggerissen. Alle Pläne, die wir uns für das Leben ausgemalt hatten, wurden über den Haufen geworfen."

Vor dieser Herausforderung stehen viele Familien, deren Kinder unerwartet nicht gesund geboren werden, sagt Sabine Hertwig, Familientherapeutin aus Essen. Dabei sei es normal, dass Eltern als eine Art Schutzmechanismus die Krankheit ihres Kindes im ersten Moment nicht wahrhaben wollen.

Umso wichtiger sei es, dass sie sich viel Zeit zum Verarbeiten und Kennenlernen des Kindes nehmen. „So sehen Eltern nicht nur die Krankheit, sondern erkennen, was ihr Kind sonst noch ausmacht." Gleichzeitig sollten Betroffene versuchen, den Druck aus der Situation zu nehmen. „Paare sollten sich erlauben, wütend oder traurig zu sein und müssen sich klarmachen, dass sie nicht gleich wieder zu 100 Prozent funktionieren müssen."

Dazu gehöre auch, Hilfe anzunehmen, von Fachstellen, aber auch von Freunden und der Familie. Diese Unterstützung sei auch wichtig, um sich im Alltag ab und an Zeit zu zweit nehmen zu können. „Das rate ich allen Eltern, ob gesunde Kinder oder nicht. Ihre Beziehung ist schließlich die Basis für die ganze Familie."

Für Tanja Hoffmann gab es in ihrer Situation nur zwei Optionen. Erstens: Man verliert sich als Paar. Zweitens: Man wächst noch mehr zusammen. „Bei uns ist es zum Glück definitiv Letzteres", sagt sie. Da sie und ihr Mann Benjamin beide berufstätig sind, haben sie sich die Arbeit im Haushalt und rund um Sophie aufgeteilt.

Das sei deutlich einfacher geworden, seitdem Sophie in die Kita geht. „Wir haben in einer Einrichtung der Lebenshilfe zum Glück sofort einen Platz mit erhöhtem Förderbedarf bekommen. Die Kita arbeitet inklusiv, was sehr toll ist." So inklusiv wie die Kita sei sonst nur wenig.

Die Gänge im Supermarkt sind zu schmal für den Reha-Buggy, im Schwimmbad fehlt es an großen Wickeltischen, in ihrer Heimatstadt Herne gibt es keinen einzigen barrierefreien Spielplatz. Eine der größten Barrieren bleibt aber die Bürokratie.

„Wir haben Anträge über Anträge ausgefüllt, selbst für die einfachsten Hilfsmittel. Wir haben zum Beispiel ein Pflegebett beantragt. Der Antrag wurde erstmal abgelehnt, weil Sophie scheinbar kein größeres Bett zusteht. Dann haben wir den Antrag für ein kleineres Bett gestellt. Darauf warten wir jetzt seit Monaten. Bis das Pflegebett da ist, ist sie vielleicht schon wieder zu groß dafür."

Tanja Hoffmann kritisiert außerdem, dass es keine zentralen Anlaufstellen gibt. Hilfe findet sie vor allem auf Social Media. Dort teilen mittlerweile viele andere betroffene Familien ihre Erfahrungen. „Bei uns im Freundes- und Familienkreis ist Sophie das einzige Kind mit Behinderung. Sich online mit anderen Familien austauschen zu können, ist wichtig für uns." Es gibt ihnen das Gefühl, nicht alleine zu sein, verstanden zu werden.

„Ihr seid so stark und macht das so toll!" oder „Ich könnte das ja nicht!": Mit Aussagen wie diesen wird die Familie immer wieder konfrontiert. „Ich weiß, dass es lieb gemeint ist. Aber es hat auch einen faden Beigeschmack. Wenn mir jemand sagt: ,Ich könnte das ja nicht' und ich mir dann Sophie angucke, denke ich: So schlimm ist sie ja auch nicht", sagt Tanja Hoffmann und lacht.

Sie wünscht sich daher vor allem mehr Aufklärung - auch über seltene Krankheiten. „Viele denken, eine Behinderung muss nur etwas Negatives bedeuten. Aber Sophie ist toll so, wie sie ist."

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