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TikTok-Star Michael: So ist das Leben im Kinderheim in NRW

Mehr als 600.000 Menschen folgen Michaels TikTok-Kanal „milolael“, seine Videos gehen auf der Social-Media-Plattform regelmäßig viral. Foto: Privat

Viersen. Vom Heimkind zum TikTok-Star: Michael ist in einem Kinderheim in NRW aufgewachsen. Online zeigt er seinen Alltag - und räumt mit Vorurteilen auf.

Michael steht mit dem Rücken zur Tafel, spürt, wie seine neuen Mitschülerinnen und Mitschüler ihn mit eindringlichen Blicken von oben bis unten mustern. „Hi, ich bin Michael, habe keine Eltern und wohne im Heim ", stellt er sich der Klasse an seinem ersten Schultag am Gymnasium vor.

Bereits mit zwei Jahren zog Michael bei seiner Mutter aus - und im Kinderheim in seiner Heimatstadt Viersen ein. Seitdem muss er sich immer wieder Fragen, Vorurteilen und Beleidigungen wie „Du scheiß Heimkind!" stellen. „Ich gehe mit meiner Situation sehr offen um, weil ich früher gemobbt wurde.

Ich habe gemerkt, wenn ich da selbst Witze drüber mache, macht es kein anderer. Also habe ich mich der Klasse wirklich genauso vorgestellt", sagt der 18-Jährige im Rückblick.

Knapp 198.000 Verfahren zur Einschätzung der Gefährdung des Kindeswohls wurden 2021 laut Bundesamt für Statistik von den Jugendämtern durchgeführt, der höchste jemals gemessene Wert. Bei akuten Gefährdungslagen ist es Aufgabe der Jugendämter, die Kinder in Obhut zu nehmen, sie also bei „einer geeigneten Person, in einer geeigneten Einrichtung oder einer anderen Wohnform" unterzubringen.

Im vergangenen Jahr haben bundesweit rund 47.500 dieser Inobhutnahmen stattgefunden. Die meisten davon wurden aufgrund der Überforderung der Erziehungsberechtigten veranlasst. Warum Michael nicht länger bei seiner Mutter, zu der er auch heute noch Kontakt hat, bleiben konnte, darüber spricht er auf ihren Wunsch nicht.

Dafür aber über alles andere. Bekommst Du Geschenke zum Geburtstag? Wird dir Dein Netflix-Account gezahlt? Hast du ein eigenes Zimmer? All diese Fragen beantwortet er nicht nur seinen Klassenkameradinnen und Klassenkameraden, sondern auch den mehr als 600.000 Menschen, die seinem Account @milolael auf der Social-Media-Plattform TikTok folgen.

Es sei ihm irgendwann „auf den Keks gegangen", ständig dieselben Dinge erklären zu müssen. Da habe sein Freund Johannes ihn Anfang 2021 auf die Idee gebracht, Erklär-Videos für TikTok zu drehen. Über Nacht sahen mehr als 40.000 Menschen seinen ersten kurzen Clip an. Eine „Roomtour", für die Michael einen Rundgang durch seine Wohngruppe filmte.

Mittlerweile gehen seine Videos regelmäßig viral. „Es gab Zeiten, da habe ich 20 Millionen Aufrufe die Woche gemacht", sagt Michael. „Ich höre von Heimkindern aus ganz Deutschland, dass sie seitdem kaum noch darauf angesprochen werden, weil es viel normaler wird."

Mit seinen Inhalten erreicht er nicht nur Gleichaltrige, sondern auch viele Eltern. Sprüche wie „Wenn du so weitermachst, stecke ich dich ins Heim" gehören seitdem der Vergangenheit an, berichten ihm seine Mitschülerinnen und Mitschüler.

Das war nicht immer so, sagt Michael und erinnert sich an seine Grundschulzeit. In der vierten Klasse übernachteten er und seine Freunde häufig beieinander. „Ich bei denen, selten einer mal bei mir. Das fanden die immer komisch. Das kann ich aber auch verstehen."

Sein Verständnis hörte auf, als bei einem Kindergeburtstag alle aus der Freundesgruppe eingeladen wurden, nur er nicht. „Da habe ich gefragt, warum ich nicht kommen darf. Und dann hört man sinngemäß so etwas wie: Meine Mutter hat gesagt, dass so Kinder wie du komisch und auffällig sind. Dass ich auffällig war, gut, da hatte er recht. Aber das war trotzdem ein Schlag ins Gesicht."

Michael rannte weinend nach Hause. „Warum muss ich hier leben und nicht einer von den anderen Jungs?", fragte er seine Betreuer. Zu ihnen hatte Michael ein recht gutes Verhältnis, konnte offen über seine Probleme und Sorgen sprechen - sofern sie Zeit für ihn hatten.

Maximal zwei bis drei Erwachsene waren zeitgleich für die acht Kinder und Jugendlichen seiner Wohngruppe zuständig. Anstatt stundenlang zu warten, bis ihm jemand zuhörte, kümmerte Michael sich oft um sich selbst, wurde dadurch „gezwungenermaßen" viel zu schnell selbstständig. „Wenn ich jetzt zurück gucke, habe ich auf jeden Fall eine kürzere Kindheit gehabt", sagt er.

Wenn man Michael fragt, ob er sich deshalb manchmal einsam gefühlt hat, überlegt er einen Moment lang. „Ich glaube nicht. Das ist zumindest nicht das Gefühl, das ich fühle, wenn ich an meine Kindheit denke. Ich denke eher an eine schöne und erfüllte als an eine einsame Kindheit."

Die Betreuer seien zwar kein Elternersatz und die anderen Kinder und Jugendlichen im Heim keine wirklichen Geschwister gewesen, aber an manchen Tagen hat sich das Heim für Michael angefühlt „wie die beste Familie, die man sich vorstellen kann. An anderen Tagen war es für ihn „einfach nur noch ein Ort, an dem du schläfst."

Vor wenigen Monaten ist Michael aus dem Kinderheim ausgezogen. Mit 18 Jahren war es für ihn an der Zeit, sich eine eigene Wohnung zu suchen. Eigentlich hatte er sich sehr darauf gefreut. Doch schnell wuchsen ihm die Wäscheberge, Einkaufslisten und all die anderen Verpflichtungen über den Kopf.

„Ich habe seitdem oft so dieses Alleinsein, was einen irgendwie überkommt. Ich will nicht sagen, dass es einen auffrisst, aber so fühlt es sich manchmal an." Anfangs habe er noch „großkotzig" allen gesagt, dass er keine Betreuung brauche, sich ja ab und an mal blicken lassen könne. Nun kommt einmal die Woche jemand vorbei, um zu sehen, ob alles in Ordnung ist - in der Wohnung und bei Michael selbst.

Als ein Follower ihn im Mai 2021, mehr als ein Jahr vor seinem Auszug, fragte, was das Schlimmste am Leben im Kinderheim ist, antwortete er: „Ich denke nicht, dass es die Tatsache ist, dass wir unsere Eltern nicht sehen oder die Regeln hier.

Ich habe Angst vor der Zukunft. Von uns wird verlangt, dass wir vom einen auf den anderen Tag erwachsen werden. Das Einzige, was wir haben, ist unsere Bildung. Aber was ist, wenn ich mein Abi nicht schaffe? Oder was ist, wenn ich mal gekündigt werde? Ich habe keine Familie, die mir finanziell den Rücken stärkt."

Dass Heimkinder nur wenig finanziellen Rückhalt haben, findet er ungerecht. So wie vieles andere. „Als 18-Jähriger im Jugendhilfesystem habe ich eine Zeit lang weniger Geld bekommen als ein Hartz-4-Empfänger ", kritisiert er etwa.

Wenn Michael über die aus seiner Sicht mangelnde Unterstützung spricht, wird seine Stimme fester und lauter. Er zitiert aus dem Sozialgesetzbuch, hat konkrete Forderungen wie zum Beispiel eine Teilfinanzierung der Heime durch den Staat und mehr Gehalt für die Betreuer parat.

Vor kurzem ist er den Jungen Liberalen beigetreten, in der kommenden Woche startet sein Bundestags-Praktikum bei Jens Teutrine (FDP). Michael will seinem Anliegen Gehör verschaffen - nicht nur auf TikTok.

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