In der Massentierhaltung werden Hennen geschlachtet, sobald sie weniger Eier legen. Ein Verein will das verhindern und sucht für die Tiere ein neues Zuhause. "Dein SPIEGEL" war bei einer Befreiungsaktion dabei.
Um zwei Uhr morgens steigen in Mahlwinkel, Sachsen-Anhalt, Ylvi und ihre Mutter ins Auto. Die elfjährige Ylvi hat kaum geschlafen vor Aufregung. Ihr Ziel: der Bauernhof Katenhusen in Niedersachsen. Dort treffen Ylvi und ihre Mutter andere Tierschützer. Ihre Mission: Hühner retten.
Der Hof ist ein sogenannter Legehennenbetrieb. Legehennen sind besondere Hühner. Je nach Hühnerrasse legen normale Hennen etwa 100 Eier im Jahr. Legehennen wurden so gezüchtet, dass sie nie eine Pause machen und ungefähr 300 Eier im Jahr legen. Das ist sehr anstrengend für die Tiere, lange halten sie das nicht durch. Schon nach einem Jahr legen sie weniger Eier. Für die Bauern lohnt es sich dann nicht mehr, sie zu halten. Deshalb werden sie geschlachtet.
Aber nicht alle Bauern bringen ihre Hennen zum Schlachthof, zehn Höfe in Deutschland geben ihre erschöpften Tiere an den Verein "Rettet das Huhn". Einer von ihnen ist Udo Katenhusen, auf dessen Hof Ylvi und ihre Mutter um vier Uhr früh ankommen.
"Für mich war es komisch, dass Menschen Hühner so lieben können. Es sind ja Nutztiere. Aber es ist ein gutes Gefühl zu wissen, dass die Hennen nicht geschlachtet werden", sagt Katenhusen.
Ylvi hält eine Henne im Arm, die laut gackert. Beruhigend streichelt sie ihr über das Gefieder. Die Henne wird zusammen mit ihren Artgenossinnen in eine Transportbox verladen. Hühner sind Ylvis Lieblingstiere. Insgesamt hat sie 31 Hühner, die bei ihr zu Hause in einem großen Stall im Garten leben. Die meisten hat Ylvi von "Rettet das Huhn". Den Verein unterstützt sie seit zwei Jahren.
"Manche Hühner brauchen viel Pflege. Eine Henne hatte zum Beispiel eine Verletzung am Auge. Das Auge musste bei einer Operation entfernt werden. Ein anderes Huhn bekommt Medikamente. Und die meisten hatten am Anfang fast gar keine Federn. Jetzt sehen sie wieder gesund aus", erzählt Ylvi. Manche geretteten Legehennen sterben aber bereits nach wenigen Wochen oder Tagen.
Massentierhaltung macht Hühner oft krank. Eigentlich fühlen sie sich nur in kleinen Gruppen wohl. Viele Hennen haben sogar eine Art "beste Freundin", mit der sie zusammen auf Futtersuche gehen oder im Sand baden. Das Leben in großen Gruppen auf viel zu wenig Raum und meist nur im Stall ohne jeglichen Auslauf im Freien stresst die Tiere so sehr, dass sie aufeinander einhacken und sich die Federn ausreißen.
Jede Henne wird deshalb von den Rettern untersucht, bevor sie verladen wird. "Die hier ist viel zu dünn und schon in der Box zusammengeklappt", sagt Ylvis Mutter und übergibt ihr eine Henne. Sie ist so schwach, dass sie in eine Einzelbox kommt. Dort kann sie sich ausruhen, bevor ein Tierarzt sie untersucht.
Anders als bei den meisten Rettungsaktionen sind heute nur wenige Tiere krank oder verletzt. Bauer Katenhusen hält seine Hühner in Freilandhaltung. Die Tiere können auf einer kleinen Wiese herumlaufen.
"Ich brauche noch jemanden im Stall", ruft eine Frau. Sofort meldet sich Ylvi freiwillig. Im Stall ist es stockdunkel, stickig und stinkt nach Mist. Ylvi schaltet die Rotlichtlampe an, die sie am Kopf trägt. Rotes Licht beunruhigt die Hühner nicht. Das ist wichtig. Und wenn es zu hell wird, entwischen sie. Deshalb findet die Rettung frühmorgens statt.
Die meisten Hühner sind noch müde und lassen sich leicht einfangen. Bauer Katenhusen hilft mit. Er nimmt eine weiße Henne von der Stange und gibt sie Ylvi, die sie aus dem Stall trägt. Nach zwei Stunden sind alle Hühner eingefangen und verladen.
Die Tierschützer vom Verein kommen aus unterschiedlichen Regionen Deutschlands. Schon vor der Rettungsaktion haben sie in ihrer Gegend neue Besitzer für die Hennen gefunden. Diese holen die Tiere noch am selben Morgen an den regionalen Verteilstationen ab. Ylvi und ihre Mutter übergeben 15 Hennen an ihre neuen Besitzer.
Hannas Familie nimmt sechs Hühner auf. Die 14-Jährige ist großer Hühner-Fan. Vorsichtig trägt sie die Tiere in den Stall. Sofort fangen sie an, zu scharren und das Futter zu picken. Als Hanna in die leere Transportbox guckt, kann sie es kaum glauben: Eine Henne hat während der Autofahrt ein Ei gelegt.
Dieser Artikel erschien in "Dein SPIEGEL" 10/2020.