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Dreiländerregion: Wir waren schon zusammengewachsen

Grenzkontrollen, Lockdown, nationale Alleingänge: Besonders in den Grenzregionen wie hier zwischen Polen und Deutschland trennt die Pandemie die Menschen noch stärker. © Stefan Sauer/​dpa

Von meiner Wohnung in Zittau ganz im Osten Sachsens laufe ich genau 950 Meter bis nach Polen. Eine meiner liebsten Spazierrunden führt an der deutschen Seite der Neiße entlang, bis zum Dreiländerpunkt. Dort treffen sich die geografischen Grenzen von Polen, Tschechien und Deutschland. Aber natürlich sieht man das nicht wirklich. Vielleicht würden, anderswo auf der Welt, an solchen Orten Kunstwerke stehen, die die Verbundenheit symbolisieren und viele Touristen anziehen. Wir sind da nüchterner. Bei uns ist der Dreiländerpunkt einfach nur eine Wiese, geteilt von einem Fluss, der Neiße. Hier wehen die europäische, die polnische, die tschechische und die deutsche Flagge. Hier ist die Mitte Europas, das kann man auf jeder Karte sehen.

Ich war 16 Jahre alt, als die Grenzen im Jahr 2007 geöffnet wurden, damals traten acht Staaten Osteuropas dem Schengen-Raum bei. Und ehrlich gesagt: Es hat mich damals null interessiert. Ich war verknallt in meinen Basketballtrainer und wollte Profi werden. In der Männermannschaft gab es polnische und tschechische Mitspieler wie Pawel, Karol und Tomáš, und das war so normal, wie es normal war, jeden Dienstag und Donnerstag zum Training zu gehen. Für mich, für meine Generation, war die Grenzöffnung etwas Logisches; etwas, das einem nicht erklärt und wovon man nicht überzeugt werden musste.

Als die Grenzen nun im Frühjahr vorigen Jahres wegen Corona erstmals wieder geschlossen wurden, fiel mir plötzlich auf, wie selbstverständlich und vielleicht auch undankbar ich mich in allen drei Ländern mittlerweile bewegte. Wie ich so tat, als wäre alles eins. Wie ich so tat, als lebte hier bei uns im Dreiländereck tatsächlich Europa.

Denn so habe ich es immer empfunden: hier wandern, da baden, dort tanzen, feiern, Filme sehen, Ahoj beim Radeln sagen, Dziękuję nach leckerem Sushi in Zgorzelec, über Grenzen gehen, ohne sie überhaupt wahrzunehmen.

Aber das war mal. Jetzt hört der Alltag an den Grenzen auf.

Normalerweise ist es so, dass wir zum Shoppen schneller in Liberec als in Dresden sind. Umgekehrt ist es für die tschechischen Bürger günstiger, bei uns Lebensmittel einzukaufen - ich treffe viele von ihnen im Rewe. An der Käsetheke sprechen die Mitarbeiter auch ein paar Brocken Tschechisch. Muss man ins Zittauer Klinikum, behandeln da über 60 tschechische Mitarbeiter, darunter Ärzte und Oberärzte.

Tschechen arbeiten hier in Ostsachsen, bauen auch hier ihre Häuser. Rund 700 Firmen in dieser Region beschäftigen Mitarbeiter aus unseren Nachbarländern.

Wirklich abgeschottet voneinander waren wir ja auch schon vor dem Jahr 2007 nicht. Da gab es zum Beispiel den "Polenmarkt" am Wochenende. Ein Highlight für uns Kinder: Dort, in den Straßen von Sieniawka, standen meterlang aneinandergereihte Wellblechhütten mit den neuesten CDs, nachgemachten Jogginghosen von Adidas, bedruckten Handtüchern mit den Backstreet Boys drauf, riesigen Lutschern und der polnischen Version von Milchmädchen aus der Tube. Stände mit Jeans und Schaffellen, Zwergen und Störchen aus Plastik, Weidenkörben und Kippen. Dort fuhr man eben hin, das gehörte schon immer dazu.

Natürlich gibt es auch Probleme, gab es sie vor Corona schon. Gestritten wird zum Beispiel über den Braunkohletagebau Turów in . Gerade hat die Stadt Zittau Beschwerde bei der Europäischen Kommission deswegen eingelegt. Es geht um Feinstaub- und Lärmbelastung, das Grundwasser und die Beeinträchtigung der Wasserqualität der Neiße. Eine Freundin von mir zeigt ihren Gästen, als eines der touristischen Highlights unserer Region, immer die Grube. Auf den Satellitenkarten von Google Maps sieht sie fast so groß aus wie die Stadt Görlitz.

In normalen Zeiten wandern oder radeln wir an den Wochenenden viel im Gebirge und sitzen am Ende des Tages immer in irgendeiner bouda, Rücken an Rücken mit Einheimischen bei Tatar und pivo. Weil es gemütlich ist und erschwinglich und weil es meistens richtig gut schmeckt. Dann, Pardon, riechen wir alle eine Woche lang sehr nach Knoblauch, weil sich keiner außer den Tschechen traut, so viel Knoblauch ins Essen zu hauen.

Danach gehen wir oft in unsere Lieblingskneipe in Zittau, ins Vinyl, wo es viele Biere von kleinen Brauereien unserer Nachbarländer gibt. Wir arbeiten und leben auf beiden Seiten der Neiße miteinander und nebeneinander.

Ach, hatte ich schon gesagt, dass das seit Corona weitgehend vorbei ist?

Mein Freund vergleicht unsere Dreiländerregion oft mit einer dreigeteilten Pizza. Normalerweise gehört allen die ganze Pizza. Aber seitdem die tschechische Politik voriges Jahr Deutschland und die dort arbeitenden Tschechen für das Einschleppen des Virus verantwortlich machte, seitdem wiederum vor einigen Wochen den "kleinen Grenzverkehr", also die kurzen touristischen Reisen in die Nachbarländer verbot, weil dort die Infektionszahlen explodierten - seitdem haben wir nur noch ein Drittel. Aber ein Pizzastück, was ist das schon? Zwei Drittel sind seit Corona quasi the dark side of the pizza. Und das ist der Teil, der fehlt.

"Wir vermissen euch, Nachbarn" stand auf selbst gebastelten Bannern in allen drei Sprachen nahe den Grenzübergängen. Das war während des ersten Lockdowns.

Heute sieht man noch ein paar Autos mit CZ-Nummernschildern herumfahren. Und vielleicht treffen wir uns auch beim Wandern und Rodeln auf dem Hochwald das eine oder andere Mal. Aber das Gefühl stimmt nicht mehr, die Atmosphäre ist eine andere.

Wird es jemals wieder so sein? Wird die in 13 Jahren erarbeitete Normalität zurückkehren, oder ist sie Geschichte?

Vor einer Woche lag so viel Schnee, dass es alle Menschen nach draußen zog. Mein Freund und ich wollten nach Waltersdorf, auf die Lausche, unseren höchsten Berg. Ich rodelte bergabwärts, und er fuhr mit Skiern durch den Tiefschnee, aus Versehen über den Grenzstein drüber - bis ins tschechische Myslivny, Jägerdörfel.

Was für eine absurde Situation, dachte ich mir. Fast hatte man ein schlechtes Gewissen.

Wir konstruieren Corona-Grenzen auf dem Papier, die im realen Leben ihre Gültigkeit verlieren. Auf der tschechischen Seite saßen ein paar Freunde mit Touren-Skiern und Snowboards im Schnee, sie tranken Cvikov, Bier aus der Grenzregion, und hielten jeder einen Hotdog oder eine Baumstriezel in der Hand. Zwei Buden boten Bier, Würste und dicken Kakao mit Sahne an. Und für diese zehn Minuten, die wir da zusammensaßen, ein geselliger Nichtort zwischen zwei Ländern, zwischen all denen, die auch an den Buden anstanden, bereits aßen oder eine Zigarette rauchten nach einem anstrengenden Aufstieg, war da wieder dieses Gefühl.

Dieses Ein-Land-Gefühl, das ich für so normal gehalten hatte.

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