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Erinnerung an eine tapfere Frau

Erinnerung an eine tapfere Frau

Betty Sauer muss ein guter Mensch gewesen sein. „Hier ruht meine treue Frau, unsere gute Mutter und Großmutter“ liest es sich mit etwas Mühe auf ihrem über 100 Jahre alten Grabstein. Wer durch das alte schmiedeeiserne Tor tritt, wird sofort von der besonderen Atmosphäre des kleinen Friedhofes in Stemwede-Niedermehnen gefangen genommen. Ruhe und Einkehr machen sich breit und die Erkenntnis: hier wird geliebter Menschen gedacht.

Herbstlich verfärbte Blätter trudeln durch die Luft. Einige Pilze recken sich keck durch das Moos. Die Sonne blitzt durch die Zweige der Trauerbirken. Beerdigt wurde hier schon lange niemand mehr. Die Gräber sind wie auf allen jüdischen Friedhöfen schlicht und mit Efeu und Bodendecker überwuchert.

36 Grabsteine sind noch erhalten. Die Mehrzahl ist sowohl deutsch als auch hebräisch beschriftet. Alle Grabmalinschriften hat Pfarrer Thomas Horst für seinen Beitrag im Buch „Jüdische Geschichte in Levern und Umgebung von 1800 bis 1938“ zusammengetragen und übersetzt. Die Autorin, Stefanie Hillebrand hat - vor ihrer Zeit als Stadtarchivarin in Rahden - in der inzwischen vergriffenen Publikation die Spuren der jüdischen Bevölkerung in Levern festgehalten.

Schon im 17. Jahrhundert gab es demnach einzelne jüdische Familien in Levern. Zum Höhepunkt um etwa 1880 zählte die Synagogengemeinde Levern-Wehdem etwa 80 Menschen. Ab den 1850er Jahren wurde zwischen der jüdischen Gemeinde und den vorgesetzten Behörden über ein geeignetes Friedhofsgelände verhandelt.

Obwohl die Regierungsbehörde im Jahr 1855 bereits die Genehmigung zur Anlegung des Begräbnisplatzes auf einem Grundstück in Levern erteilt hatte, verweigert die Gemeinde ein Jahr darauf den Verkauf des besagten Grundstückes.

Bedenken äußert die Gemeindeversammlung in Bezug auf direkt angrenzende Häuser. 1859 wird schließlich ein Gelände in Niedermehnen zur Anlegung eines Friedhofs freigegeben. Das etwa 2.000 Quadratmeter große Grundstück an der heutigen L770 gehörte dem Kaufmann Bernhard Löwenstein aus Levern, der es der Synagogengemeinde stiftet. Ein entsprechender notarieller Vertrag wird im Januar 1860 geschlossen. Genutzt wurde der Friedhof von 1862 bis 1936.

Die Familie Sauer, obwohl in Wehdem wohnhaft, hat sich seit den 1830er Jahren der jüdischen Gemeinde in Levern zugehörig gefühlt. Betty Sauer wird am 3. August 1831 als Betty Steinfeld geboren. Sie stirbt am 17. Juni 1909.

Mit Abraham Sauer hat sie zwei Söhne, Moses und Simon. Über die Lebensumstände der jüdischen Frauen ist wenig dokumentiert, denn die sie und ihre christlichen Geschlechtsgenossinnen berührenden Lebensbereiche kommen in den alten Akten so gut wie nicht vor.

Da verrät die hebräische Inschrift auf Betty Sauers Grabstein schon mehr. Die von Thomas Horst angefertigte Übersetzung lautet: „Hier ist begraben die tapfere Frau, die Zierde ihres Gatten, fromm und rechtschaffen und lieblich, dem Elenden und Armen reichte sie die Hände. Liebe und Treue zu üben all ihre Tage“. Die Inschrift endet mit dem Segenswunsch: „Möge ihre Seele eingebunden sein im Bündel der Lebendigen.“

Die Familien Sauer aus Wehdem sind kinderreich und nach ihren zu entrichtenden Steuersätzen zu urteilen nicht unvermögend. Viehhandel hat bei den Sauers Tradition. Aufgrund ihrer wirtschaftlichen Stellung und wahrscheinlich nicht zuletzt, um sie eng an die jüdische Gemeinde in Levern zu binden, so vermutet Stefanie Hillebrand in ihrem Buch, bekleiden sie stets Posten im Vorstandsgremium. Betty Sauers Sohn, Simon Sauer und seine Ehefrau Emma Sauer sind im Jahr 1938 die letzten Mitglieder der Synagogengemeinde Levern. Sie verlassen Wehdem kurz vor der Pogromnacht und ziehen nach Berlin. Vermutlich hoffen sie, in der großstädtischen Anonymität einen gewissen Schutz zu finden.

Simon Sauer meldet sich zum 1. Dezember 1938 offiziell in Wehdem ab. Von Berlin aus emigriert das Ehepaar kurz darauf nach Kanada. Nach 1945 ist keiner der überlebenden Juden nach Levern oder Wehdem zurückgekehrt. Somit endet die jüdische Geschichte in Stemwede mit dem Jahr 1938.

Anmerkung: Erschienen ist der Artikel in der Neuen Westfälischen am 10. November 2012. Hervorgeholt habe ich ihn noch einmal 2024 anlässlich des Gedenktags für die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar.