Solveig Michelsen

Reise-, Berge-, Outdoor-Journalistin, Tutzing

1 Abo und 3 Abonnenten
Artikel

Eigennutz und Edelmut – oder Nuancen einer Symbiose

Kennen Sie den Film „Findet Nemo”? In dem Zeichentrickfilm wird eine bekannte Symbiose thematisiert: die des Clownfischs mit der Seeanemone. Was im Film wie ein kuscheliges Miteinander aussieht, ist in Wahrheit weitaus komplizierter. Auf den ersten Blick scheint die Anemone den Clownfisch wohlwollend zu beschützen. Doch das Nesselgift in ihren Tentakeln fügt auch dem Clownfisch Schmerzen zu. Er ist nur ein wenig widerstandsfähiger und hartnäckiger als seine Kollegen und drängt sich der Anemone so lange auf, bis diese ihn nicht mehr als Fremdkörper identifiziert und sogar mit einer schützenden Schleimschicht bedeckt. So kann sich der farbenfrohe Fisch in dem gefürchteten Nesseltier vor Fressfeinden verstecken und Zuflucht finden.  

Doch all das tut die Anemone nicht aus altruistischen Motiven, sondern wohlweislich, um selbst davon zu profitieren: Der Clownfisch putzt Sand aus ihren Tentakeln, fächelt ihr, wenn nötig, sauerstoffhaltiges Wasser zu und lockt außerdem Fressfeinde an. Denn auf der Flucht vor größeren Raubfischen hält er schnell auf sein Versteck zu, während die gierigen Jäger – die Beute vor Augen – oft erst zu spät erkennen, wohin sie der Kurs führt. Da sind sie längst schon in den Tentakeln gefangen …  

Das Miteinander ist also stark von der Aussicht auf eigenen Profit geprägt; Win-win würden wir sagen. Auf der Erde besteht sogar der größte Anteil von Lebewesen aus symbiotischen Systemen; viele Pflanzen sind auf die Bestäubung durch Tiere angewiesen. Unterscheiden tun sich die Systeme im Grad ihrer wechselseitigen Abhängigkeit, die von lockeren Gefälligkeiten bis hin zur Eusymbiose reichen können: Ein Partner allein ist hier nicht überlebensfähig. So geht es zum Beispiel den Blattschneiderameisen, die das von ihnen geschnittene Grünzeug (pro Tag die Fress-Ration einer ausgewachsenen Kuh!) nur dazu verwenden, den Pilz zu füttern, auf und von dem sie leben. Stirbt der Pilz, gehen auch sie zugrunde, weshalb sie ihn fleißig düngen und pflegen.

Tiere und Pflanzen handeln bzw. leben stets so, dass ihr Überleben – oder das ihrer Nachkommen – gesichert ist bzw. bleibt. Ab und zu finden sich zwei passende Partner, die sich in ihren Wünschen so ergänzen, dass eine Quid-pro-quo-Beziehung möglich und sinnvoll ist. Dass dabei aber ein Gleichgewicht zwischen Geben und Nehmen besteht, entspringt der Wunschvorstellung des Menschen nach Gerechtigkeit. In der Realität werden Schwächen des jeweils anderen Symbionten gerne ausgenutzt, sofern es zum eigenen Vorteil ist – bis hin zur Inkaufnahme seines Todes. Außer natürlich, man sitzt im eusymbiotischen Boot ...

Selbstlosigkeit ohne Eigennutz ist in der animalischen Evolution also nicht vorgesehen, so der aktuelle Stand der Wissenschaft. Doch der hat sich seit Darwin („survival of the fittest”) immerhin schon weiterentwickelt. Während früher Altruismus unter Tieren generell als nicht existent angesehen wurde, hat man mittlerweile Thesen dazu aufgestellt, die kooperative Verhaltensweisen mit altruistischen Anteilen anerkennen.  

Der nepotistische Altruismus erklärt die Hilfsbereitschaft gegenüber Verwandten: Je höher der Verwandtschaftsgrad, also je ähnlicher die Gene, desto größer auch die Bereitschaft zu unterstützen. Sympathie ist dafür nicht vonnöten. Die einzige „Gegenleistung” besteht hier in der Hoffnung, möglichst ähnliche Gene zu fördern, also eine indirekte Nachkommenschaft.

Der reziproke Altruismus zeigt sich zum Beispiel bei Vampirfledermäusen, die ein erstaunlich soziales Verhalten an den Tag legen – aber nur weil es Hoffnung auf Ausgleich gibt. Biologen haben herausgefunden, dass die Fledertiere, die täglich frische Blutrationen zum Überleben brauchen, einander nur deshalb davon abgeben, weil sie später ebenfalls in eine Notlage geraten könnten. Ein solches Verhalten ist eher bei intelligenten, sozialen und langlebigen Arten zu erwarten. Das Prinzip verlässt sich auf die Wirkungsmacht des „guten Rufs”: Unter den Fledermäusen wird schnell bekannt, wer besonders sozial und wer egoistisch agiert. Entsprechend erfolgreicher sind die Kooperativen unter ihnen, was dafür spricht, dass sich ein soziales „Helfer-Gen” letztendlich durchsetzt.

Auch der niederländischer Historiker Rutger Bregman betont, dass die Kooperationsfähigkeit unter Tieren eine ganz wesentliche Rolle in der Evolution spielt. „Survival of the friendliest” proklamiert er in seiner „neuen Geschichte der Menschheit” („Im Grunde gut”, 2019), in der er mithilfe von Silberfüchsen und Hunden die Koppelung von Intelligenz und Freundlichkeit aufzeigt. Soziale Intelligenz zahlt sich also aus.

Und auch den Menschen stellt er in diese Linie. Die Sentenz „homo homini lupus est”, also der Mensch sei dem Menschen ein Wolf, wandelt er ab in „Homo Puppy” – der Mensch ist dem Menschen ein Hundewelpe, denn auch er möchte geliebt werden. Doch weit mehr als das: Der Mensch ist in der Lage, innerhalb kürzester Zeit soziale und kooperierende Strukturen aufzubauen, die ihm das Überleben sichern – zum Beispiel nach einer Naturkatastrophe. Er sozialisiert sich aber nicht nur in einer „So wie du mir, so ich dir”-Beziehung, sondern ist in der Lage, selbstlos zu handeln, ohne auf den Verwandtschaftsgrad oder etwaige Gegenleistungen zu schielen.  

Gibt es also wirklich uneigennützige Menschenfreund*innen, wahre Philanthrop*innen? Und ist es unser Bedürfnis nach Gerechtigkeit, sind es unsere Moralvorstellungen oder gar das Gebot der Nächstenliebe, die uns selbstlos handeln lassen? Seit vielen hundert Jahren wird über diese Fragen diskutiert. Soziolog*innen weisen auch hier auf unterschwellige egoistische Motive hin. Helfe ich am Ende also nur, weil ich im Anschluss mit einem Wohlgefühl belohnt werde?  
Das warme Gefühl im Bauch, nachdem man anderen etwas Gutes getan hat, wurde tatsächlich schon biochemisch nachgewiesen: Ein Gen, das für Dopaminausschüttung nach einer sozialen Geste sorgt, ist dafür verantwortlich. Aber warum ist dem so? Und warum leben empathische Menschen nicht nur gesünder, sondern auch länger? All das müssen wir hier unbeantwortet lassen, aber vermutlich haben uns genau diese Eigenschaften zu einer besonders erfolgreichen Spezies gemacht. Mögen wir es nicht vergessen.