Entscheidungen mit Bauch und Hirn
Steve House, einer der extremsten Höhenbergsteiger unserer Zeit, rät ihn seinem Buch „Jenseits des Berges“1: „Höre auf deine Intuition.“ Nach der Relevanz des Bauchgefühls befragt, gibt er an, dass er eine Kombination aus Intuition und analytischem Vorgehen für absolut entscheidend hält am Berg2.
Und Margo Hayes, die sich die erste weibliche Rotpunktbegehung einer 9a+-Route sichern konnte, meditiert regelmäßig, um in gutem Kontakt mit sich selbst zu stehen – um mal nur zwei prominente Beispiele herauszupicken.
Was passiert durch regelmäßige Meditation? Zum einen schule ich damit meine Wahrnehmung der körperlichen und mentalen Signale, die in kritischen Situationen oftmals aufleuchten – ohne dass wir es immer bemerken. Zum anderen werden Entscheidungen unter weniger Anspannung3, ergo Muskelkraft, getroffen, was beim schweren Klettern unter Umständen das Zünglein an der Waage sein kann.
Woher kommen nun diese wegweisenden Signale in gewissen Situationen? Nachdem pro Sekunde 11,2 Millionen Bit an Sinneseindrücken auf uns einströmen, von denen maximal 50 Bit/Sekunde (!) bewusst verarbeitet werden können4, tummelt sich der Rest noch eine ganze Weile im Vorbewussten, bevor er das Oberstübchen verlässt. Je wissender und erfahrener ich in einer Sache bin, desto schneller kann durch einen Wiedererkennungseffekt der Wissenspool ins Bewusste transferiert werden. Besonders die Erkennung von Mustern spielt hierbei eine große Rolle.
Entmystifizierung von Intuition
Das heißt also, dass die Intuition kein Pi-mal-Daumen-Urteil eines völligen Laien sein kann, sondern vielmehr ein blitzschnelles assoziatives Denken ist, das aus angesammeltem Wissen eine optimale Lösung auswählt. Das Wissen entstammt sowohl bewussten Lernprozessen als auch unbewusster, wie nebenbei getankter Erfahrung. Die Lösung präsentiert sich dann oft als „Bauchgefühl“ und wird mal mehr, mal weniger ernst genommen.
In nicht wenigen Unfallberichten und -analysen heißt es hinterher: „Ich hatte schon so ein komisches Bauchgefühl, aber alle Faktoren haben für eine Durchführung gesprochen.“ Immer wieder verlassen sich Menschen lieber auf die „hard facts“, die gerade sichtbar sind, als ihrem ureigenen Körperinstrument mehr Vertrauen zu schenken. Dabei beruhen auch intuitive „Eingebungen“ auf nachvollziehbaren Fakten – die wir zu diesem Zeitpunkt nur nicht benennen können.
Gary Klein, ein amerikanischer Psychologe, der sich ausführlich mit dem Thema Entscheidungen befasst, hat unter anderem Feuerwehrmänner zu ihren Entscheidungsprozessen befragt. In einem Fall rief ein Feuerwehr-Einsatzleiter bei einem ihm „merkwürdig“ erscheinenden Hausbrand seine Männer vorzeitig zurück, obwohl die Fakten alle dagegen sprachen. Kurz danach stürzte das Haus ein. Im Interview gab er an, den berühmten „sechsten Sinn“ zu besitzen und sprach von außersinnlichen Wahrnehmungen, die ihn geführt hätten. Gary Klein bohrte weiter und kam der Sache schließlich auf den Grund: Die „Merkwürdigkeiten“ bei diesem Hausbrand waren nichts anderes als unbewusst registrierte Fakten, die der „Bauch“ sofort mit ähnlichen, sehr kritischen Situationen in Verbindung gebracht hatte. Dem Verstand war es zu diesem Zeitpunkt (und auch danach) noch nicht klar gewesen, dass es eine völlig logische Begründung für dieses Bauchgefühl gab. Erst nach intensiven Befragungen konnte geklärt werden, dass eine ungewöhnliche Stille beim Brand, eine enorme Hitze und ein kaum funktionierender Wasserlöschvorgang die inneren Alarmglocken hatten schrillen lassen. Die Erklärung lag in einem unvermuteten Keller des Hauses, wo der eigentliche Brandherd lag. Dieser dämpfte die Geräusche ab und reagierte kaum auf Wasser von oben.
Omnipräsente intuitive Entscheidungen
Gerade im Alltag nutzt man seine Intuition öfter als einem bewusst wird: Treffe ich einen mir unbekannten Menschen, teilt mir mein Bauch in einer Zehntelsekunde mit, ob er/sie mir sympathisch ist oder nicht. Das dafür zuständige Zentrum im Gehirn sitzt an ganz anderer Stelle als das der Ratio. Zum einen reagieren Mandelkernkomplex und posteriorer cingulärer Cortex auf allgemein als sympathisch empfundene Signale wie z.B. ein offenes Lächeln, zum anderen gleichen sie aber auch mit bisherigen Erfahrungswerten und eigenen Einstellungen ab. Blitzschnell und ohne mein bewusstes Zutun. Die Intuition trifft mithilfe des Unbewussten also wesentlich schnellere Entscheidungen, als der Verstand jemals zustande bringen könnte. Das bringt mir zum einen den entscheidenden Zeitvorteil in brenzligen Situationen. Zum anderen ist Wissenschaftlern seit langem bekannt, dass logisches Denken das intuitive Urteil nur stört – die Intuition aber auf einen ungleich größeren Wissensschatz zugreifen kann als der Verstand. Auch deshalb sind wir besonders kreativ, wenn wir uns in einer Art Selbstvergessenheit befinden, in einem Flow oder Trance-Zustand, zu dem auch das Träumen gehört.
Intuition spielt gerade im Zwischenmenschlichen eine große Rolle – auch bei denjenigen, die sie für verzichtbar halten. Mr. Elliot, ein Mann, dessen emotionales Hirnzentrum bei einer Tumor-OP beschädigt worden war5, konnte anschließend nur noch rein analytische Entscheidungen treffen. Die Folgen waren nicht nur äußerst zeitraubende Alltagsfragen, sondern eine generelle Unfähigkeit, am Arbeitsleben noch sinnvoll teilzunehmen. Selbst die Frage, welcher Radiosender eingestellt werden sollte, kostete ihn ungebührlich viel Zeit und Nerven. Das macht zum einen sichtbar, wie viele Alltagsentscheidungen intuitiv getroffen werden, zum anderen aber auch, wie wichtig die Zusammenarbeit von Gefühl und Verstand ist.
Zur Zuverlässigkeit von intuitiven Entscheidungen
Die oben geschilderte Entscheidung des Feuerwehr-Einsatzleiters ist ein gutes Beispiel, wo Intuition bestens funktioniert hat. Aber es steht außer Frage, dass das nicht immer der Fall ist. Emotionale Einflüsse von außen können das Bauchgefühl zum Beispiel verschieben, sodass vorab die Leistung eines guten Filters erbracht werden muss (dazu später noch mehr). Aber: Ist es nicht so, dass auch das Auge, eines unserer wichtigsten Sinnesorgane, einen blinden Fleck hat und nicht immer zu 100% korrekt arbeiten kann? Trotzdem käme niemand auf die Idee, unseren optischen Eindrücken zu misstrauen. Es reicht uns, die möglichen Fehlerquellen zu kennen; das andere nehmen wir weiterhin für bare Münze.
Und: Sind denn unsere regelbasierten und analytischen Methoden unfehlbar? Wohl kaum, wenn ich lese, dass die Hälfte der Lawinentoten der letzten beiden Winter auch bei konsequenter Anwendung der elementaren Reduktionsmethode ums Leben gekommen wäre. Offensivere regelbasierte Methoden hätte in Zusammenhang mit dem Altschneeproblem sogar nur 5 Tote (von 28) verhindern können, schreibt Walter Würtl im Heft #101. Ist das alles nicht Grund genug, eine Symbiose aus beidem – Verstand und Intuition alias Bauchgefühl – in Erwägung zu ziehen?
Nur mal zur Erinnerung: Das Bauchgefühl ziehe ich nur für wichtige Entscheidungen zu Rate. Stehe ich bei einer günstigen Lawinenlage in einem harmlosen 25-Grad-Hang, überlege ich nicht lange. Aber sobald die rationale Analyse nicht mehr ganz so eindeutig grünes Licht gibt oder die Faktenlage zu komplex ist, muss ich andere Entscheidungskriterien hinzuziehen. Reichen die objektiv bekannten Faktoren nicht aus, um ein eindeutiges Ergebnis zu erzielen, befrage ich eben den Bauch. Der meistens etwas dazu zu sagen hat. Ich muss nur genau hinhören bzw. dies vorab geübt haben, um meine individuelle „Bauchsprache“ verstehen zu können.
Den Zugang zum Bauchgefühl herstellen
Bloß wie nochmal? Punkt eins ist natürlich die unersetzbare Wissensaneignung, die immer und überall passiert, wenn ich mich mit einer Sache x beschäftige. Auch fortgeschrittenen Anfängern kann das Bauchgefühl hier schon beispringen: In einem rein rechnerisch befahrbaren Hang kommt der Tourengeherin ein schlechtes Gefühl auf. Die assoziative Verknüpfung des felsdurchsetzten, schneearmen Hangs mit einem (Unfall-)Bild aus dem letzten Lawinenkurs passiert unbewusst und geht eindeutig über ihr bewusstes Wissen hinaus. Trotzdem kann sie ihr hier bei der Entscheidung helfen.
Die zweite Komponente ist das bewusste Üben von Wahrnehmung6, um die intuitiven Signale überhaupt zu erkennen. Der eine bekommt Bauchgrummeln, wenn ihm nicht wohl bei einer Sache ist, der andere atmet nur noch flach oder schnell. Ein Dritter kriegt einen trockenen Mund. Möglicher Ansatzpunkt wäre, vergangene Entscheidungen zu reflektieren: Wie fühlte es sich an? Welche Faktoren lassen sich nachträglich erkennen, die zu diesem Gefühl geführt haben? Nicht umsonst sind Unfallanalysen ein Thema, das viele fesselt. Die Hoffnung, daraus etwas zu lernen, ist nicht unbegründet. Nur sollte man zunächst bei sich selbst anfangen zu beobachten. Und: sich ernst zu nehmen.
Da Intuition ja nicht nur Vetos einlegt, wenn es um ein in Frage stehendes Risiko geht, sondern auch Lösungen anbietet, sollte vor allem auf den ersten Gedanken geachtet werden, der einem durch den Kopf schießt. Dieser ist zumeist noch unbeeinflusst von emotionalen Faktoren und Verstandeselementen und eine mentale Simulation wert. Das heißt: Sofern Zeit zur Verfügung steht, sollte die Vorstellungskraft dazu benutzt werden, die eben entstandene Situation im Kopf bildlich durchzuspielen. Danach kommt der Verstand wieder ins Spiel: Taugt die Lösung was? Ist sie niet- und nagelfest?
Weitere kleine Tricks erleichtern das Filtern von Empfindungen. Möchte ich zum Beispiel den Einfluss von Gruppenphänomenen reduzieren, stelle ich mir in entscheidenden Situationen die Frage: „Wie würde ich entscheiden, wenn ich hier allein wäre?“ Das filtert Gruppendruck ebenso wie Verantwortungsdiffusion und eine Expertenfalle bestmöglich aus.
Eine weitere Wahrnehmungsübung ist die Frage „Wie würde der Unfallbericht lauten?“. Manchmal lassen sich so versteckte Gipfeleuphorie, aber auch Überängstlichkeit entlarven und aus dem Bauchgefühl ausfiltern. Auch eine nüchterne Kosten-Nutzen-Bilanz, auf deren Plus-Seite vielleicht ein völlig banaler Gipfel steht, auf der Negativseite jedoch eine Vielzahl an Risiken, die ich dafür in Kauf nehme, kann eine gute Übung sein, um zu merken, dass der Verstand nicht wirklich so objektiv arbeitet wie wir uns das oft vorstellen. In jedem Fall werden Relationen zurechtgerückt und verschoben und die Wahrnehmung dafür geschärft – beste Voraussetzungen für eine starke Intuition.
Zum Üben des Bauchgefühls kann zu Hause auch die Zwei-Sessel-Übung durchgeführt werden: Bei komplexen Entscheidungen, die einen rational überfordern, setzt man sich zunächst auf den ersten Sessel, der für Option eins steht, und stellt sich die Situation nach Entscheidung A bildlich vor. Dabei achtet man auf die körperlichen und mentalen Empfindungen, die dabei auftauchen. Nach einer Weile wechselt man zu Sessel zwei, der für die Alternative B steht. Man wiederholt den Vorgang. Und ist hinterher oft erstaunt, zu wie viel mehr Klarheit eine solche Übung führen kann.
Fazit
Ein guter Zugang zu seinem eigenen Bauchgefühl, seiner Intuition, kann unter Umständen wertvoller sein als große Routine, die ja auch ihre eigenen Gefahren birgt. Denn mit einem ausgeprägten Draht zum Bauch lässt sich wesentlich mehr Wissen anzapfen als der Verstand bewusst zur Verfügung stellt. Warum aber sollte ich kritische Situationen meinem Verstand zur alleinigen Entscheidung überlassen, wenn ich weiß, dass ich mit gezielter Übung ein viel vollständigeres Bild erlangen kann? Hier wäre eine stärkere Fokussierung auf die zweite wichtige Zutat für gelungene Entscheidungen oft wünschenswert.
Solveig Michelsen
1 Steve House: Jenseits des Berges. Piper Verlag, München, 2010.
2 Interview mit der Autorin am 26.01.2018
3 eine Folge der Stressreduktion durch das Vertrauen auf intuitive Entscheidungsfindung
4 Tor Nørretranders: „Spüre die Welt. Die Wissenschaft des Bewusstseins“
5 Er war Patient des portugiesischen Neurowissenschaftlers António Damásio, der daraufhin die Relevanz der Emotionen für Entscheidungen genauer untersuchte.
6 Da Intuition an sich schwerlich geübt werden kann, ist nur eine Annäherung möglich. Die nötige Sensibilität hierzu kann nicht erzwungen werden, aber die Ansätze dazu sind erlernbar.