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Mit dem Chatbot gegen die Großmacht

Die Wahrheit kann entwaffnen. Selbst den größten Feind. Mit der größten Armee der Welt. Das hat Billion Lee festgestellt. Wie schafft es ein kleines Land wie Taiwan, das laut Digital Society Project der Stockholmer Universität im neunten Jahr in Folge auf Platz 1 aller Länder liegt, die von einer fremden Regierung mit Desinformationen geflutet werden, sich dagegen zu wehren? Wie kann sich ein Inselstaat mit knapp 23 Millionen Einwohner:innen vor einer Großmacht China, die Taiwan als abtrünnige Provinz betrachtet, auch digital schützen?

Diese Frage stellen Billion Lee Medienvertreter:innen aus aller Welt. Kommen dafür extra nach Taipeh, Taiwans Hauptstadt. Treibt es sie doch selbst irgendwie um, sie, die in Demokratien, oder Fast-noch-Demokratien, in Europa und den USA leben, wo Wahl um Wahl Trolle im Dienst von Autokraten alles kippen wollen. Die Antwort darauf gibt Billion Lee am liebsten im „Chiao Chiao Good Food", einem kleinen Café unweit der Taipeh Business School, bei Scones und Tee. „Im Moment, wenn Desinformationen, die gerade noch viral gingen, geprüft werden, verlieren sie an Beliebtheit, Das sehen wir in unseren Analysen", sagt Lee, „es ist wie eine Injektion gegen eine Krankheit."


Die Chatbots der Aufklärung

Billion Lee ist Mitbegründerin der Factchecking Plattform „Cofacts", die sie gemeinsam mit dem Softwareentwickler Johnson Liang 2016 ins Leben gerufen hat. Sie haben einen Chatbot entwickelt, den sich Nutzer:innen herunterladen können. 300.000 Personen haben das bereits getan. In erster Linie für den Messengerdienst „Line", den größten des Landes, mit dem die Taiwaner:innen telefonieren, chatten, einander Bilder und Videos zuschicken.

Mit dem Chatbot können sie überprüfen, ob das, was sie sich gegenseitig in privaten Chaträumen so alles senden, auch tatsächlich der Wahrheit entspricht. Zusätzlich arbeiten zehn bis zwanzig Redakteur:innen auf der Cofacts-Seite selbst, beantworten dort Fragen, erweitern die Datenbank - und tauschen sich aus mit den fast 2.400 Freiwilligen, die ähnlich wie bei Wikipedia Beiträge prüfen, ergänzen und korrigieren. Fast 1.000 Nachrichten werden pro Woche geprüft, erzählt Lee. Klar, ein kleiner Anteil, angesichts der Mengen an Falschinformationen, die Taiwan täglich fluten.


  Kognitive Kriegsführung

Doch das Cofacts-Team ist nicht allein. Es ist Teil einer großen zivilgesellschaftlichen Infrastruktur, die in Professionalisierung, Expertise und Engagement längst als Vorbild für andere Demokratien dient. Sie hat sich entwickelt als Ergebnis einer Geschichte, in welcher der Ernstfall seit über 70 Jahren im Hinterkopf spukt: eine chinesische Invasion - und das analog wie digital, auf allen Kanälen. Daher bezeichnet Taiwans Regierung Chinas Desinformationskampagnen auch als „kognitive Kriegsführung".

Um an dieser Front gewappnet zu sein, hat sich in den vergangenen Jahren ein „zivilgesellschaftliches Ökosystem", wie es die Süddeutsche Zeitung einmal bezeichnete, gebildet. Dazu zählen neben Cofacts auch Organisationen wie „Fake News Cleaners", die auf Straßenmärkten, in Tempeln, in Pflegeeinrichtungen und Pensionistenheimen ihren Landsleuten erklären, wie man Fake News erkennt. Eine weitere Organisation ist das Taiwan Fact Check Center. Es veranstaltet landesweit virtuelle Wettbewerbe für Jugendliche, um Fake News zu identifizieren. Und NGOs wie „Doublethink Lab" und IORG widmen sich der „digitalen Verteidigung", indem sie sich wissenschaftlich mit dem Tracking ausländischer Desinformationskampagnen befassen.

China, als Quelle der Desinformationen, ist nicht immer eindeutig zu erkennen. Dank VPNs kann die Herkunft der Nachrichten verschleiert werden. Doch lässt sich aus dem Inhalt der Botschaften erkennen, dass die Urheber:innen eine chinafreundliche Politik verfolgen.


  China, ein Hort der Menschenrechte

Billion Lee, selbst Politikwissenschaftlerin, konnte dabei einen Zyklus an Desinformation ausmachen. Sie hat beobachtet, dass zwischen Wahlen in Taiwan eher offen pro-chinesische Inhalte verbreitet werden. Das heißt, es wird davon geschwärmt, wie entwickelt China doch ist, wie technologisch aufgerüstet, wie die Wirtschaft brummt, und wie sehr man sich im kommunistischen Einparteienstaat für Menschenrechte einsetzt.

Billion Lee, Mitbegründerin der Factchecking Plattform „Cofacts". © Fotocredit: Billion Lee

Zu Wahlkampfzeiten ändert sich der Fokus. Chinas Propaganda wird subtiler. Es beginnen die Attacken gegen Parteien und Politiker:innen, insbesondere der amtierenden DPP, der Fortschrittspartei, die als chinakritisch gilt. Sie war es auch, die bei den diesjährigen Präsidentschaftswahlen am 13. Jänner mit dem bisherigen Vizepräsidenten William Lai gewann.

In den Vorjahren hat man die universitären Leistungen und akademischen Grade der Kandidat:innen in Frage gestellt, später gänzlich auf Skandal gesetzt, und Politiker:innen Affären und uneheliche Kinder angedichtet. Und zum Finale, zum Wahltag, ist oftmals, sollte ein chinakritischer Kandidat gewinnen, vom großen Wahlbetrug die Rede. Dass die Tinte aus den Kugelschreibern, mit denen man sein Kreuz am Wahlzettel gemacht hat, verblassen würde. Oder dass unter der tatsächlichen Wahlbox, in die man seinen Stimmzettel einwirft, eine andere wäre, die man dann ausgewechselt hat. „Sie sind ziemlich kreativ", gesteht Billion Lee anerkennend.


Fake News über die Aids-Insel Taiwan


Thematisch versucht man sich in Sachen Desinformation an die politische Großwetterlage im Land anzupassen. Als Lee mit Liang Cofacts 2016 gegründet hat, standen Geschlechtergerechtigkeit und die Rechte der LGBTQI-Community im Fokus der öffentlichen Debatten. Damals wurde auch diskutiert, ob Taiwan die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare beschließen soll - was 2019 als erstes Land in Asien auch tatsächlich geschah. Doch davor wurden die Foren, Plattformen und Chaträume geflutet von homophober Propaganda. Taiwan würde zu einer Aids-Insel werden, wurde behauptet, weil HIV-infizierte Männer en masse Taiwaner heiraten würden, um so kostenlos in Taiwans Gesundheitssystem versorgt zu werden.


  USA, der Verbündete, der nichts taugt


Das Hauptaugenmerk chinesischer Propaganda richtet sich auf das Sicherheitsgefühl der Taiwaner:innen. Das gilt es zu untergraben. Seit dem Ukrainekrieg befürchten viele in Taiwan, dass Chinas Staatschef Xi Jinping sich an Russlands Diktator Wladimir Putin ein Beispiel nehmen könnte. Dass er seine Drohung, die er auch zu Neujahr wiederholt hatte, China mit Taiwan „wiederzuvereinigen" - und das notfalls mit Gewalt - tatsächlich wahrmachen könnte.

Taiwans Regierung hat bereits reagiert: Sie hat Militärequipment besorgt, sie vernetzt sich zunehmend mit seinem Hauptverbündeten USA und sie hat Gesetze beschlossen, wie die Verlängerung des bislang vier Monate langen Militärdienstes für Jungen auf ein Jahr.

Dass all diese Bemühungen nicht reichen und man sich in Taiwan nie sicher sein kann, darauf legen es die Desinformationstrolle an. Es gilt, in Taiwan Misstrauen zu säen, gegenüber den eigenen Volksvertreter:innen sowie internationalen Partnern, insbesondere den USA. So heißt es: Im Fall des Falles würden die USA die Taiwaner:innen hängen lassen, so wie sie es in Afghanistan gemacht haben. Außerdem würden sie Taiwan vergiftetes Schweinefleisch verkaufen, das die Penisse pubertierender Jungen schrumpfen lassen würde. Und es gebe geheime Deals zwischen der Biden-Administration und Taiwans politischer Elite, dass man die erste Reihe im Kriegsfall per Helikopter außer Landes schaffen würde. Zudem sollen taiwanische Politiker:innen ihre Kinder schon vorab ins Ausland gebracht haben, wo sie auch bei einem Angriff bleiben würden, während normale Bürger:innen ihr Land verteidigen müssten. „All das soll suggerieren: Im worst case lassen euch eure Politiker im Stich", erklärt Billion Lee.


  Keine Chance für staatliche Regulierung


Gesetzlich gab es Anläufe, die Verbreitung solcher Nachrichten in den sozialen Medien zu regulieren. Im Sommer 2022 wurde ein entsprechender Gesetzesentwurf eingebracht. Nach dem Vorbild der EU und ihrem „Digital Services Act" wollte die Regierung künftig Onlineplattformen mehr in die Pflicht nehmen, um die Verbreitung von Falschnachrichten und illegalem Content zu unterbinden.

Der taiwanische Entwurf hätte auch vorgesehen, dass die Behörden definieren würden, was als illegal und als Desinformation gilt. Ein No-Go für die meisten Taiwaner:innen. Staatliche Regulierung von Medien und ihren Inhalten ist für viele gleichbedeutend mit Zensur. Das hängt mit der Geschichte des Landes zusammen.


  Traumatisiert von der Geschichte


Fast 40 Jahre herrschte in Taiwan eine Einparteien-Diktatur, in der das Kriegsrecht galt. Tausende Oppositionelle wurden verfolgt, inhaftiert und ermordet. Diese Zeit des „Weißen Terrors" hat sich tief in das kollektive Gedächtnis gebrannt. Erst Ende der 1980er-Jahre fand der Demokratisierungsprozess statt, 1996 die ersten freien Wahlen. Seither hat sich das Land zu einer Musterdemokratie entwickelt, die im Spitzenfeld demokratiepolitischer Rankings weltweit liegt.

Wer in so einem Staat ausländische Desinformationskampagnen, und seien sie noch so feindlich, in den Griff kriegen will, muss mehr aufbieten als staatliche Regulierungen, meint Billion Lee: „Alles andere triggert die Menschen und nährt den Verdacht, dass man sie kontrollieren will und die Meinungsfreiheit zensuriert. Vonseiten der Regierung kannst du da nichts machen." Dass das in Europa anders läuft, hat sie schon bemerkt. Dort würden die Regierenden ihren Bürger:innen misstrauen, in Taiwan sei es umgekehrt. Da wird dem Staat misstraut. Und alles Vertrauen in die Zivilgesellschaft gesetzt.

An dieser Front wird die Demokratie verteidigt. Analog wie digital.

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