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Meine Frisörin, die einzig wahre Liebe

Frisör:innen bringen mehr als nur eine Dienstleistung. Sie können ganze Gesellschaften kitten. Das hat man weltweit verstanden - und setzt sie von den USA bis Westafrika ein als Verbündete im Kampf gegen häusliche Gewalt und psychische Krankheiten.

Es gibt eine Person, die niemand zu hintergehen wagt. Die eine Beziehung, die immer exklusiv bleiben wird. Wo es kein Ausprobieren gibt, keine Experimente. Noch nicht einmal eine Pause. Hat man diesen Menschen gefunden, bleibt man ihm bis in alle Ewigkeit treu. Oder zumindest bis zu seiner Pension. „A unique love affair" nannte der Autor Burk Rosemann die Beziehung zu seinem Frisör. Nur in der Pandemie, während der Lockdowns, sei er fremdgegangen, gestand er in einem Essay. Es war ein Seitensprung mit einer Frau. Seiner Ehefrau. Unbefriedigend war das. Einfach nicht dasselbe. Nicht dieselbe Magie, wie wenn sein Frisör L. mit den Händen durch sein Haar fährt und genau weiß, was es braucht - was er braucht. Jeder hat seinen L. Wenn er Glück hat. Diese eine Person, die begriffen hat, was der Kopf will und braucht. Die wissend nickt, wenn jemand behauptet, dass die richtig sitzenden Haare einen Unterschied machen zwischen einem guten und einem schlechten Tag, wie es Phoebe Waller-Bridge in ihrer Serie „Fleabag" in dem legendären Monolog „Hair is everything" auf den Punkt brachte. Hair is everything. In der Tat.

Kuratoren von Fassaden - und Egos

Und die Person, die es zu bändigen weiß, ist mehr als nur eine Dienstleisterin. Sie ist Handwerkerin, Künstlerin, Therapeutin. Ihr wird das anvertraut, das allen anderen verheimlicht wird: das eigene - mitunter verletzliche - Ego. Ihr wird offenbart, wie man sich selbst sieht und von anderen gesehen werden möchte. Und vor allem, wie weit man dafür bereit ist zu gehen, im Kuratieren der eigenen Fassade. Lieber Nina Hagen oder Nina Simone? Salvador Dali oder Salvador Allende? Zugänglicher Buddy oder unnahbare Diva? Welche Rüstung darf es heute sein? Wer trimmt, schneidet, verlängert, flechtet, kürzt und färbt, kennt jede Unsicherheit, jeden Komplex und jede Selbstverliebtheit seiner Schutzbefohlenen. Weiß, was es nach außen zu signalisieren gilt, wenn alles gut läuft, und umso mehr, wenn es das nicht tut. Wie viel Gewicht ein Schnitt, eine Rasur, ein bisschen Farbe bekommen kann, wenn die Welt im Lot ist, und so viel mehr, wenn sie es nicht ist. Egal ob Montagvormittag im Büro oder Freitagabend bei der Verabredung. Ob für den großen Auftritt oder die kleine Selfcare-Einheit im Alltag. Vom Geburtstag bis zur Scheidung, Frisör:innen sind immer mit von der Partie. Die eine Konstante im Leben, die niemand missen möchte.


Schlichtweg systemrelevant. Wie sehr, wurde vielen erst während der Pandemie bewusst. Zur Weißglut hat es Politiker:innen auf der ganzen Welt getrieben, dass sich Leute trotz hoher Infektionszahlen immer noch heimlich hinausschlichen, um in Kellern, abgedunkelten Geschäftslokalen und fremden Wohnungen die Haare von ihren Expert:innen versorgen zu lassen. „All diese Frisöre, die zu euch nach Hause kommen, wozu machen sie das? Wofür zum Teufel? Wer zur Hölle wird euch sehen?", versuchte Antonio Tutolo, Regionalrat aus Apulien, mit Maske unter dem Kinn die Bürger:innen via Facebook zur Räson zu brüllen. Umsonst. Die Leute machten weiter. Für diese eine Beziehung waren sie bereit, jede Strafe in Kauf zu nehmen.


Identitätsstiftende Habitate


Wenige Fremde erhalten dermaßen oft und dermaßen unkompliziert exklusiv Zutritt in das Leben ihrer Mitmenschen. Werden eingeweiht in Geheimnisse, zu steten Begleiter:innen von prägenden Lebensereignissen gemacht, und selbst dann noch aufgesucht, wenn es längst niemanden mehr gibt, der die Veränderung an einem bemerken könnte. Wer bei ihnen einkehrt, weiß, dass er mehr kriegt als nur ein bisschen Entwahrlosung. Er bekommt eine Generalwartung nicht nur für den Körper, sondern im besten Fall auch für den Geist. Frisörsalons sind identitätsstiftende Habitate und Orte des Miteinanders, wo vieles zur Sprache kommt - auch die unangenehmsten Dinge. Eine besondere Beziehung eben. Und eine wertvolle Ressource für all jene, die etwas in einer Gesellschaft bewegen wollen. Unterschwellig, unkompliziert und günstig. Das hat man weltweit begriffen.


Im US-Bundesstaat Illinois etwa hat sich der Gesetzgeber Frisör:innen mit ins Boot geholt im Kampf gegen häusliche Gewalt. Seit 2017 müssen sie, Kosmetiker:innen und Mitarbeiter:innen in Nagelsalons, mindestens eine Stunde „Missbrauchspräventionstraining" absolvieren, um ihren Gewerbeschein zu erhalten. In dem Kurs sollen sie lernen, Anzeichen von Gewalt an ihren Kund:innen zu erkennen. Das bedeutet mehr als nur genau hinzusehen, nach blauen Flecken Ausschau zu halten oder versteckte Beulen am Hinterkopf zu ertasten. Es bedeutet auch, etwas genauer hinzuhören.

All die Formen des nicht sichtbaren Missbrauchs zu detektieren. Kristie Paskyan ist Gründerin der Organisation „Chicago Says No More" und hat die Präventionskurse mitgestaltet. Der New York Times erzählte sie über eine Kundin, die davon berichtete, wie ihr Partner jeden Einkaufszettel kontrollierte, um festzustellen, ob sie wirklich die günstigsten Angebote gekauft hatte. Eine andere erzählte, wie sehr sie sich immer wieder die Haare so kurz wie möglich schneiden lassen wollte, weil es die einzige Sache war, die sie selbst kontrollieren konnte. Die Frisör:innen sind nicht verpflichtet, den Missbrauch an die Autoritäten zu melden. Aber sie können im gegebenen Fall Informationen bereithalten, Notrufnummern und Visitenkarten von Sozialarbeiter:innen aushändigen.


  Botschafter:innen mentaler Gesundheit


In Westafrika geht man einen Schritt weiter. Dort hat die NGO „Bluemind Foundation" 150 Frisör:innen zu „Botschafter:innen" mentaler Gesundheit ausgebildet. In vielen afrikanischen Ländern praktizieren zu wenig Expert:innen auf dem Feld. In Togo etwa, mit 8,6 Millionen Einwohner:innen, gibt es gerade einmal fünf Psychiater:innen, darunter nur eine Frau. Auch in anderen afrikanischen Ländern ist das Angebot überschaubar - und die wenigen, die es gibt, werden oft nicht in Anspruch genommen. Weil sie entweder zu teuer sind oder von der Gesellschaft mit Misstrauen betrachtet werden. Ein Konzept aus dem Westen, nicht vereinbar mit der eigenen Kultur, heißt es dann. Doch zum Frisör, zur Frisörin geht jeder und vor allem jede. Und kann es sich im Vergleich zu anderen Angeboten auch leisten. Mit diesem Wissen arbeitet die „Bluemind Foundation". Drei Tage lang werden die „Botschafter:innen" ausbildet, offene Fragen zu stellen, nonverbale Signale zu interpretieren, nicht zu tratschen und ihre Kund:innen mit Informationen für weitere Hilfsangebote zu versorgen. Die Workshops fanden bereits in Ländern wie Togo, der Elfenbeinküste und Kamerun statt. Bald will man auch nach Ghana, Ruanda und Senegal, berichtet die New York Times.

Auch dort soll die gesamte Gesellschaft von dieser besonderen Beziehung profitieren. Die eine, die mehr verspricht, als nur eine schöne Fassade aufrecht zu erhalten.


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