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Iranische Lektionen für den Westen

Fremdes lässt sich für viele nur dann erschließen, wenn sie es mit Bekanntem vergleichen können. Dann beginnt erst die Nähe, die Empathie, vielleicht gar die Identifikation. Mit den Iranerinnen ist das im Westen passiert. Wir haben kapiert, wofür die Menschen „da drüben“ kämpfen, wenn sie ihre Kopftücher verbrennen und eine Islamische Republik herausfordern, die sie seit der Revolution 1979 knechtet. Wie eine feministische Bewegung, die die Protestierenden längst als Revolution bezeichnen, ein ganzes Land quer durch alle Schichten, Ethnien und Religionen erfassen konnte. Ausgelöst durch den gewaltsamen Tod von Mahsa Jina Amini, einer 22-jährigen Kurdin, deren Kopftuch ein paar Haare nicht bedeckt haben soll und sie deswegen von der Sittenpolizei festgenommen wurde. Am 16. September wurde ihr Tod gemeldet.

 

Seither ist im Iran nichts, wie es vorher war. Die Furcht ist weg, sagen viele. Sie habe nach 43 Jahren, und jetzt fast vier Monaten Protesten, über 500 Toten, mehr als 18.000 Inhaftierten und offiziell zwei staatlich Exekutierte, nichts mehr zu verlieren. Und alles zu gewinnen. Im Gegensatz zu den Machthabern, die nur auf noch mehr Repression setzen können, weil sie wissen, dass mit ihrer Vision eines Staates, einer Gesellschaft, eines Lebens im Iran niemanden mehr etwas vormachen können. Dass die Zeit ihrer Revolution längst abgelaufen ist und eine neue in den Startlöchern steht.

 

Angeführt von mutigen Iranerinnen, die es auf das Cover und in die Bilderstrecken internationaler Magazine geschafft haben. Ob Economist, Spiegel, Vogue, sogar auf der Titelseite des Time Magazine als „Person of the Year 2022“. Auch bei uns im Westen ist mit diesen Revolutionärinnen einiges ins Rollen gekommen. Eine Aufmerksamkeit, die vorherige Protestbewegungen, derer es einige im Iran gab, nicht geschafft haben. Europäische Politiker übernehmen Patenschaften für Inhaftierte und zum Tode Verurteilte. Die UNO kickt den Iran aus der Frauenrechtskommission und beschließt eine eigene Truppe zu organisieren, die Menschenrechtsverletzungen im Iran aufklären soll. Es sind historische Meilensteine für Aktivistinnen und Iran-Kenner weltweit, die zum ersten Mal in diesen fast vier Monaten Freudentränen in den Augen hatten, als sie von diesen Entscheidungen erfuhren. Endlich schaut die Welt auf die Menschen im Iran, nicht nur auf die eigenen Interessen. Wohlgemerkt, nicht nur.

 

Das könnten nicht wir sein

 

Diese internationale Anteilnahme ist schön. Sie tut gut, und ist essentiell für die Menschen im Iran, signalisiert sie doch: Wir sehen euch und bleiben dran, ihr seid nicht alleine! Doch warum ausgerechnet die Iranerinnen? Was haben sie getan, dass sich ihr „Fremdes“ uns so nah anfühlt, dass man sich in europäischen und amerikanischen Metropolen für ihr Schicksal, ihren Kampf und ihre Opfer erwärmen kann? Woher diese Identifikation?

Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock hat es zu Beginn der Proteste erklärt: „Das könnten wir sein.“ All die Werte, für welche die Menschen unter der Parole „Frau, Leben, Freiheit“ auf die Straße gehen, streiken und sich den Regimeschergen in den Weg stellen, sind doch unsere Werte. Freiheit, Demokratie und der Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben, in das sich kein mörderischer Gottesstaat einmischt. Das könnten wir sein. Nein, liebe Frau Baerbock, könnten wir nicht. Wirklich nicht. Weil wir nicht 43 Jahre lang unterdrückt waren. Weil sich keine staatlich missbrauchte Religion 43 Jahre lang in unseren Alltag, unsere Beziehungen, unsere Träume eingenistet hat. Weil wir nicht wissen, wie sich ein Leben anfühlt, dass sich in einem Balanceakt zwischen roten Linien abspielt, die von den Machthabern ständig neu gezeichnet werden. Wir haben nicht die geringste Ahnung, und kennen daher auch nicht die Dringlichkeit und das dazugehörige Risiko sich einem derartigen Regime entgegenzustellen.

 

Daher waren auch nicht wir die ersten, die sich solidarisch mit den Menschen dort gezeigt hatten, sondern jene, die es ganz genau wissen. Etwa die Afghaninnen, die unter Lebensgefahr vor der iranischen Botschaft in Kabul für ihre Schwestern im Nachbarland demonstriert haben. Oder die Ukrainerinnen und Belarussinnen, die zu den ersten zählten, die aus Solidarität mit den Iranerinnen ihre Haare abgeschnitten haben. Darunter auch Frauen in Uniform, die offensichtlich gerade besseres zu tun haben, als zu verfolgen, was in anderen Ländern so abgeht und ihre Anteilnahme über den Tellerrand schwappen zu lassen. Aber sie tun es, weil sie die gleiche Dringlichkeit verspüren. Und unter anderen Vorzeichen den gleichen Kampf leben, während wir es bereits im satten Westen als solchen begreifen, wenn sich Frauennippel unter einem „The Future is Female“- Shirt sichtbar abzeichnen.

 

Ihnen musste auch nicht erst die Brutalität der Islamischen Republik noch einmal mehr vor Augen geführt werden. Sie brauchten keine Berichte über die Demonstrierenden in den kurdischen Gebieten und in Sistan-Belutschistan, wo mit scharfer Munition gegen die eigene Bevölkerung der Krieg erklärt wird. Keine Ärzte, die anonym davon erzählen, wie Frauen absichtlich auf die Brüste und den Genitalbereich geschossen wird. Keine CNN-Berichte, die dokumentieren, wie systematisch in den Gefängnissen, Frauen wie Männern, Erwachsene wie Minderjährige vergewaltigt werden. Keine weitere Grausamkeit einer Machtelite, die nicht davor zurückschreckt junge Männer hinzurichten, die man in Scheinprozessen vor aller Öffentlichkeit demütigt und ihre Familien in der falschen Gewissheit lässt, dass sie wieder freikommen. Nur um ihnen am nächsten Tag zu sagen, dass ihre Liebsten erhängt und bereits bestattet wurden – und man ihnen nur noch die Adresse des Grabes mitteilt.

 

Totalitäre Regime und ihre Feinde

 

Die Afghaninnen, Ukrainerinnen und Belarussinnen brauchten diese Beweise nicht. Sie wussten es bereits. Weil sie derselben Schicksalsgemeinschaft angehören. Und zwar jener, die das Unglück teilt totalitäre Regime am eigenen Leib in jeder Nuance zu kennen. Die kroatische Journalistin und Schriftstellerin Slavenka Drakulić hat diese Gesellschaften in ihrem Essayband „How we survived Communism and even laughed“ wunderbar charakterisiert. Nicht umsonst werden Zeilen daraus gerne unter Iranern zitiert. „In einer totalitären Gesellschaft muss man sich direkt auf die Macht beziehen, es gibt kein Entkommen“, schreibt Drakulić „Daher ist Politik niemals abstrakt. Sie bleibt spürbar, eine brutale Kraft, die jeden Aspekt unseres Lebens bestimmt, von dem was wir essen, wie wir leben und wo wir arbeiten.” Es sei wie eine Krankheit, eine Pandemie, die niemanden verschont. Das Paradoxe dabei: Auf diese Weise schaffen sich totalitäre Regime genau das, was sie zu verhindern versuchen: Extrem politisierte Bürgerinnen, deren Widerstand gegen das Regime von Tag zu Tag wächst. Ihr Gefühl des „Point of no return“ mit Marschrichtung Freiheit.

 

Wenn in unseren Breitengraden von Freiheit, Demokratie und der Gefahr von Diktaturen gesprochen wird, sind es zumeist jene, die gelernt haben diese Begriffe zu pervertieren.

Jene, die Karrieren daraus gemacht haben diarrhös in der Öffentlichkeit gegen jede zivilisatorische Errungenschaft wettern und es als Denkanstoß verkaufen. Jene, die in obskuren Netzwerken die große Weltverschwörung behirnen. Und jene, die nach verlorenen Wahlen Parlamente stürmen und am Ende aus dem Untergrund mit Schattenarmee und Schattenregierung sich ihren terroristischen Wahn zu erputschen versuchen. Das sind die revolutionären Bewegungen unserer Breitengrade. Und es ist mehr als ein trauriger Zufall der Geschichte, dass just in dem Moment, wo Iraner beginnen die persische Version des antifaschistischen Partisanenlieds „Bella Ciao“ zu singen, in jenem Land, wo das Lied seinen Ursprung hat, eine Postfaschistin an die Macht kommt.

 

Vielleicht ist es in diesem Jahr an der Zeit sich endlich an den Gedanken zu gewöhnen, dass der Referenzrahmen für „unsere Werte“ nicht länger bei uns zu verorten ist, sondern überall dort, wo sich die Menschen ihrer Kostbarkeit tatsächlich bewusst sind.

 

 

 

 

 

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