Wien. Man soll ein Buch nicht nach seinem Einband beurteilen. Diese Lektion hat Meran gelernt, als er die Schulbücher seines siebenjährigen Sohnes durchblätterte. Harmlos hat es ausgesehen, das Buch mit dem Heißluftballon, dem Elefanten, den Löwen und dem Granatapfel auf dem Cover. Türkisch, Muttersprachenunterricht 1. Einmal die Woche wird sich mein Sohn mit der Sprache meiner Heimat beschäftigen, dachte sich Meran. Zwei Stunden lang wird er mit Elefanten, Löwen, Granatäpfel, kleinen Buben und kleinen Mädchen ein bisschen Türkisch lernen. Das dachte er. Bis Meran die Seite 71 aufschlug. Zu sehen sind sechs Bilder von Mustafa Kemal Atatürk, dem Staatsgründer der Türkei. In Uniform, im Frack, in legerer Freizeitkluft. Und ein Gedicht:
"Ich kann dich nicht vergessen. Du hast die Türkei befreit. Du blonder blauäugiger Mann. Wie gut du bist, und wie wahrhaftig. Oh Atatürk, du großer Mensch! Du bist immer in meinem Herzen!"
Ekel überkommt Meran, wenn er die Zeilen des Gedichts übersetzt. Für die einen ist Atatürk der "Vater der Türken". Ein Reformer. Ein Modernisierer. Ein Nationalheiliger. Für Meran, dem Sohn kurdischer Eltern, ist er ein Tyrann. Ein Nationalist. Ein brutaler Feldherr. "Ich will nicht, dass mein Sohn mit den Inhalten des Kemalismus in Berührung kommt." Der Sozialwissenschafter schüttelt den Kopf, wenn er das Buch durchblättert. Stolz hat es ihm sein Sohn vor einigen Monaten vorgelegt. "Ich will nicht, dass dieses Buch in der Schule kursiert. Es ist hier fehl am Platz", sagt er.
A wie Atatürk Es ist nicht das einzige Buch, in dem Atatürk vorkommt. Wer einen Blick in die 50 Bücher wirft, die für den türkischen Muttersprachenunterricht in Österreich zugelassen sind, wird immer wieder auf den blonden Mann mit den blauen Augen treffen. Um genau zu sein: Kaum eines kommt ohne einen Verweis auf den Vater der Republik aus. Mal ist es nur ein Bild, mal sind ihm ein paar Seiten gewidmet. Präsent ist er allemal. Es beginnt bereits bei der Alphabetisierung mit dem Buchstaben A wie Atatürk. Und geht weiter über heroische Gedichte zum 23. April, jenem Feiertag, den Atatürk den Kindern geschenkt hat, bis zu Witzen, in denen ein Vater seinen Sohn mit den Worten tadelt: "In deinem Alter war Atatürk Klassenbester." Die Replik des Sohnes: "In deinem Alter war er Präsident."
Eine umstrittene Persönlichkeit ist Atatürk. Bis heute. Doch hat das einen siebenjährigen Volksschüler in Wien zu kümmern? Warum soll er sich vor einen Spiegel stellen und das Gedicht zum Gründungstag der türkischen Republik aufsagen und auswendig lernen, wie es eine Aufgabe in einem Arbeitsbuch von ihm verlangt? Was ist der Sinn hinter dem Muttersprachenunterricht? Die Vermittlung der Sprache? Oder geht es um etwas anderes?
"Es geht nicht um Heimatkunde oder kulturelle Verbundenheit, sondern darum, die Potenziale, die die Kinder mitbringen, wenn sie mehrsprachig sind, für die Entwicklung zu nutzen", erklärt Rüdiger Teutsch. Er ist Leiter der Integrationsabteilung im Bildungsministerium, zuständig für den Muttersprachenunterricht an den österreichischen Schulen. 32.293 Kinder haben im Schuljahr 2011/2012 den muttersprachlichen Unterricht besucht. In Wien waren es insgesamt 17.153 Kinder, die meisten für die Sprachen des ehemaligen Jugoslawiens und für Türkisch.
Seit den 1970er Jahren gibt es in Österreich ein Konzept für den Muttersprachenunterricht. Damals wurden die Kinder aus einem Grund in ihrer jeweiligen Muttersprache unterrichtet: um ihnen die Rückkehr in die Heimat ihrer Eltern zu erleichtern. Sie sollten problemlos mit Büchern und Lehrern aus dem Ausland ihre schulische Laufbahn fortsetzen können. Sprachlich - und patriotisch. Heute will keiner mehr zurückkehren. Heute lernen die Kinder die Sprache ihrer Eltern, um sich mit der Oma im Urlaub ein bisschen unterhalten zu können, um vor den Freunden anzugeben und um sich in der eigenen Haut ein bisschen wohler, ein bisschen sicherer, ein bisschen verstandener zu fühlen.
7633 Mädchen und Buben haben im Schuljahr 2011/2012 in Wien den Muttersprachenunterricht für Türkisch besucht, von der Volksschule bis zum Gymnasium. Sie alle haben das eine oder andere Türkisch-Buch in der Hand gehabt. Und sie haben das eine oder andere Bild von Atatürk gesehen. "Ein Lehrbuch ist nicht die Bibel", gibt Teutsch zu bedenken. "Auch ein Lehrbuch ist interpretierbar. Lehrer können dazu Stellung nehmen und den Kontext darstellen. Und sie können auch erklären, wer Atatürk ist und warum er hier als eine Vaterfigur beschrieben wird", erklärt Teutsch.