Wien. Der Aufriss ist ein mühsames Unterfangen. Immer schon. Zu viel muss darin investiert werden. In Garderobe, Getränke, Witz und Charme. Vor allem hierzulande, wo die Zunge erst nach einer bestimmten Promille-Grenze lockerer zu werden scheint. Und das heimische Flirtgebaren aus der lemurenaffenähnlichen Glotzstarre im besten Fall übergeht in ein hilfloses Komapatienten-Tätscheln des Oberarms.
In der Kaiserstraße 95 geht dieses Unterfangen einfacher. Und effizienter, wenn man so will. Ein jeder weiß, weswegen er oder sie hier ist, sobald sich die schwarze Tür öffnet. Wer die Schwelle übertritt, hofft auf eines: Kontakt. Vor allem körperlichen.
Willkommen im Element 6, einem von knapp einem Dutzend Swingerclubs in Wien. Swingerclub. Das klingt nach alten Männern, die mit lockeren Handtüchern und festen Bäuchen in Fernsehreportagen durch das Bild stolzieren. Gelegentlich vergraben sie ihr Gesicht wie demotivierte Säuglinge zwischen den Brüsten einer Frau, bis es zum kollektiven Gerammel geht. Die Devise: Eyes Wide Shut trifft auf Kaisermühlen Blues, dokumentiert im grellen Kameralicht eines Privatsenders. Dass sich die Zeiten geändert haben, beweist ein Blick in die heimische Szene. Es gibt frisches Blut. Und das sehnt sich nach Aufriss der ehrlichen, direkten und unkomplizierten Art, ganz im Geiste einer verföhnten Generation Y, die sich in ihrem Freiheitstaumel aus lauter Optionen gar nicht mehr zu helfen weiß. Vor allem was ihr Balzverhalten angeht.
"Als Mann musst du passiv sein" Der Swingerclub schafft Abhilfe. Das vorgeheuchelte Interesse am Gesprächspartner hält sich in Grenzen, die Investition in den Alkoholpegel des Gegenübers ebenso und das Kopfzerbrechen darüber, ob der Kopulationsgenosse am nächsten Tag mit Kaffee bewirtet werden muss, hat ein Ende. Im Swingerclub lässt sich das in einem Aufwisch erledigen: kennenlernen, beschnuppern, Sex. Und das ohne das Leintuch am nächsten Morgen wechseln zu müssen. Um diese Generation buhlen die Swingerclubs mit Schnupperveranstaltungen seit geraumer Zeit. Auch am Freitag findet im Element 6 wieder eine "First Timer Party" statt. Warm ist es hier an den kalten Novemberabenden. Das Licht ist gedämpft. Im Hintergrund laufen Charthits. Auf einem Bildschirm ist ein lautloser Porno zu sehen. In der Mitte der Bar steht eine Striptease-Stange. Gelegentlich zeigt eine Tänzerin ihre Künste vor, in Plüsch-Flip-Flops und kariertem Baumwoll-BH. Gelegentlich hört man das Stöhnen der Mittvierzigerin, die noch Minuten vorher im bunten Fairtrade Rock an der Bar saß und sich jetzt in einem der drei Séparées im hinteren Teil des Lokals oral verwöhnen lässt.
Harmlos eigentlich. Das Lokal erinnert mehr an eine barocke Studenten-WG als einen verruchten Sündenpfuhl; die Klientel mehr an freizügige Onkel und Tanten als an verzweifelte Hormonbomben. An der Bar sitzt Dieter. Adrett sieht der Mittvierziger aus, in dem braun-grünen Sakko. Er lächelt freundlich in die Runde. "Als Mann muss man passiv sein. Das klassische Rollenverhalten passt hier nicht", erklärt der Kaufmann. Dreimal im Jahr kommt Dieter in die Bar. Und dreimal kam die Initiative von einer Frau. Nummern wurden danach keine ausgetauscht. Die Frauen wollten es nicht. Denn die Frau hat in der Swingerwelt inoffiziell das Sagen. Wenn sie Nein sagt, heißt es Nein. Wer das nicht verstehen will, wird von der Community geächtet, so will es der Swinger-Codex.
"Für uns Frauen geht immer etwas" 35 Euro lässt sich Dieter den Eintritt im Element 6 am Wochenende kosten. Für Frauen ist der Besuch gratis. Was, wenn keine Frau die Initiative ergreift? Warum nicht lieber ins Puff gehen, wo man weiß, was man für sein Geld bekommt? "Es gibt wenige Professionelle, die sagen, dass es ihnen Spaß macht. Ihnen geht es nur ums Abkassieren", meint Dieter, "außerdem habe ich da nur eine halbe Stunde." In der Kaiserstraße kann er bis in die frühen Morgenstunden bleiben, wenn sich eine Dame bereit erklärt.
"Für uns Frauen geht immer etwas", sagt Sonja und schnippst, als würde sie nach einem Kellner rufen. Es ist simple Ökonomie. Das Gesetz von Angebot und Nachfrage. Und das weibliche Angebot ist rar in der Swingerwelt - daher ist den wenigen Exemplaren die Aufmerksamkeit sicher, unabhängig von Konfektionsgröße, Brillenglasstärke oder Unterhaltungskapazität. Selbstsicher sitzt Sonja in dem lila-farbenen Korsett und dem schwarzen Minirock an der Bar des Traumlands, Wiens ältestem Swingerclub. Es ist der zweite Besuch der 28-jährigen Akademikerin in einem Swingerclub. Der junge Mann in den knappen Speedos neben ihr hat für sie genau eine Funktion: "Eine Frau, die in den Swingerclub geht, geht aus demselben Grund hin, wie ein Mann, der in ein Puff geht. Du fühlst dich befriedigt, aber nicht erfüllter, wenn du rausgeht", erklärt sie und streichelt ihrem temporären Partner über die nackten Schenkel. Der Dresscode im Traumland ist klar: Unterwäsche, Dessous, Handtuch. Mehr nicht.
Seit 27 Jahren gibt es den Swingerclub in der Schlösselgasse 11 im 8. Bezirk. Regina und Herbert Stockinger haben ihn damals ins Leben gerufen. "Modern aufgeschlossenes Pärchen sucht Gleichgesinnte", erinnert sich Renate Stockinger an die Zeitungsannonce, die das Paar anfangs noch geschaltet hatte, um andere Swinger zu finden. Ein elitärer Kreis war man noch in den Siebziger Jahren in Wien. Acht Paare haben sich jedes Wochenende getroffen, einmal in einem Haus im Wiener Wald, einmal in der extra für sie umgebauten Ordination eines Zahnarztes. 1986 gaben die Stockingers der Wiener Swingerszene in einem ehemaligen Lager eines Altwarenhändlers in der Josefstadt ein offizielles Zuhause. Auf 1000 Quadratmetern haben sie einen Sexspielplatz für Erwachsene geschaffen, mit Wasserbett, Dark Room, plüschigen Liegewiesen, Gynäkologen-Stühlen und Streckbank. Ein Drittel der Traumland-Besucher sind Stammgäste. Vom 80-jährigen Paar im schwarzen Negligé bis hin zur geschiedenen Kosmetikerin im Latexmantel, die mit 56 Jahren das erleben möchte, was sie in der Jugend verpasst zu haben glaubt.
Über Nachwuchs macht sich Regina Stockinger keine Sorgen. Auch das Traumland bietet jeden Freitag "Begin to swing" Veranstaltungen an. "Die jungen Mädls sind da die treibende Kraft und sagen: Ich will in den Swingerclub. Das gefällt mir", sagt die rüstige 63-Jährige und lacht. Heute gilt sie als Grande Dame der Swingerszene. Sie wird anerkannt und respektiert. Das war nicht immer so. Stockinger erinnert sich noch, wie Mütter ihre Autos ein paar Straßen weiter parkten, wenn sie ihren Sohn, "das Rotlichtkind", wie er vom Direktor beschimpft wurde, von der Schule abholte. Doch die Zeiten haben sich verändert - und die Wiener sind lockerer geworden.
Die Sehnsucht nach dem Konventionellen
In der Kaiserstraße 95 hat man diesen Trend erkannt. Und macht sich bereit auf den Ansturm der Neulinge. Bardame Lucy wird sie empfangen. Die 26-jährige Mathematikstudentin hat sie schon alle gesehen, die Swingerveteranen und die Frischlinge, die sich hinter einem Schutzwall kichernder Freundinnen verstecken, bevor sie an die schwarze Tür klopfen.Nächste Woche feiert der Club sein sechsjähriges Bestehen. Von da an wird man aufhören, sich als Swingerclub zu bezeichnen. Dann ist das Element 6 nur noch die Bar mit dem erotischen Flair. Denn eigentlich ist hier der Fokus nicht auf Sex gerichtet, versichern die Besucher. Sondern das Kennenlernen. Die Unsicherheit. Das Knistern. Die Sehnsucht nach dem konventionellen Herantasten. Vielleicht ist Effizienz doch nicht alles. Manchmal ist es eben doch die nervenaufreibende Jagd. Und die darf ruhig auch ein bisschen altmodisch sein.