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Artikel

Böse Onkels

erschienen am 1.10.2007 in "Datum"
Co-Autorin: Anna Giulia Fink


Therapieren, wegsperren, kastrieren: Ideen, wie man am besten mit Pädophilen umgehen soll, gibt es viele. Was wirklich zu tun ist mit ihnen, weiß in Österreich niemand so recht. Im Rest der Welt allerdings auch nicht. Anatomie einer Verkehrsbehinderung.


Rindsrouladen macht er am liebsten. Martin Dnik leckt sich mit der Zunge über die Lippen und streicht mit seinen kurzen, dicken Fingern über den Bauch. "Und noch viel lieber esse ich sie", sagt Dnik und grinst. Man lacht mit und findet ihn sympathisch. Der 51-Jährige spricht über seine Lieblingsserien, beschreibt bekannte Charaktere und Szenen und lässt so immer wieder kurz vergessen, mit wem man es zu tun hat. Dann greift er nach seinem Glas Apfelsaft, und der Blick fällt wieder auf seine Hände. Auf die kurzen, dicken Finger, die fünf Mädchen zum Weinen gebracht haben. "Glauben Sie bitte nicht, dass ich ein Monster bin", sagt Dnik. Es nicht zu glauben, fällt schwer. Seine Knopfaugen suchen trotzdem nach einem verständnisvollen Blick. Martin Dnik ist pädophil. Das Wort bringt er erst nach einer Dreiviertelstunde über die Lippen - davor ist er ein "Mensch mit dieser Neigung". Deswegen heißt er auch nicht Martin Dnik, und er ist auch nicht 51 Jahre alt. Dnik hat sich ein neues Leben aufgebaut, an sein altes will er nicht erinnert werden. Neue Freunde, neue Lokale, neuer Hund. Fünfmal hat Dnik damals zugeschlagen. Dreimal gestreichelt, einmal gefingert und einmal mehr. Gesessen ist er dafür sechs Jahre. Vom Grapscher, Spanner, Vergewaltiger bis zum Mörder: Jedes Jahr werden in Österreich rund 600 Personen wegen Sexualdelikten verurteilt: Die Hälfte davon landet im Strafvollzug - zwei Drittel von ihnen, weil sie sich an Kindern vergangen haben.

In der Diskussion über Pädophile will jeder mitmischen. Die Politik sagt den Bürgern, was sie hören wollen, Motto: Hauptsache Härte zeigen. ÖVP-Innenminister Günther Platter ging jüngst wieder einmal voran: Bis Ende 2008 soll es höhere Strafen, Berufsverbote für einschlägige Berufe und eine detaillierte Sexualstraftäterdatei geben, in der schwere Delikte für immer gespeichert werden sollen. Manchen geht das nicht weit genug. Peter Westenthaler, Chef der orangen Regionalpartei, fordert, Kinderschänder an den Pranger zu stellen.

Jeder Bürger soll durch eine offene Datenbank erfahren dürfen, ob er seine Kinder nicht doch besser auf einem anderen Spielplatz schaukeln lassen soll. Noch eine Idee des Hardliners: die chemische Kastration - und fertig ist die kinderschänderfreie Zone. "Unser Rechtssystem geht davon aus, dass der Großteil der Sexualstraftäter ganz gesunde Menschen sind, die sich frei entscheiden können, ob sie die Tat begehen oder nicht. Eine höhere Strafe oder ein Eintrag in eine Datenbank wird sie aber nicht automatisch von weiteren Taten abhalten", sagt Reinhard Eher. Der Psychiater ist Leiter der 2002 vom Justizministerium eingerichteten Zentralen Dokumentations- und Koordinationsstelle für Sexualstraftäter im Strafvollzug. Mit seinem dreiköpfigen Team - einem Psychologen, einem Psychiater und einem Psychotherapeuten - untersucht Eher dort alle Sexualstraftäter, die vor ihrer Inhaftierung stehen. Nach einem zweiwöchigen Test entscheidet er, welche Therapiebehandlung der Täter hinter Gittern erhalten soll. Ob Pädophilie heilbar ist, gilt bis heute als ungeklärt. Darin, dass eine Therapie die effektivste Methode darstellt, um Pädophilie zu behandeln, sind sich die Experten aber einig. "Man müsste die Möglichkeiten der Therapiekapazitäten vehement ausbauen - während der Haft, nach ihr und natürlich auch bevor die Tat passiert", sagt Fritz Lackinger, Psychoanalytiker und Leiter des Forensisch-Therapeutischen Zentrums in Wien-Leopoldstadt. 150 Patienten befinden sich dort zurzeit in Psychotherapie, die Hälfte davon Sexualdelinquenten. 35 bis 40 von ihnen wiederum sind - meist pädophile - Missbrauchstäter. Die Behandlung sei besonders schwierig: "Es ist deutlich mehr Betreuung und Erfahrung der Therapeuten notwendig, weshalb letztlich die einzelne Therapiestunde auch mehr kostet."

Martin Dnik geht seit zehn Jahren in die Therapie. Er hat sich heute im Griff - zumindest tut er alles, um diesen Eindruck zu erwecken, wenn er von "Kontrollmechanismen" und "Opferempathie" spricht. "Das habe ich alles aus einem Trieb heraus gemacht, den ich nie haben wollte. Heute kann ich dank therapeutischer Behandlung damit umgehen", sagt Dnik, und man hört seinen Therapeuten aus ihm sprechen. Der Stoff sitzt, Dnik hat seine Hausaufgaben gemacht. Die Zahlen sprechen für ihn: Die Wahrscheinlichkeit, dass er sich tatsächlich im Griff hat, liegt bei achtzig Prozent - die Rückfallquote bei Sexualstraftätern beträgt rund zwanzig Prozent. Und das schon ohne therapeutische Hilfe. Beruhigt fühlt sich deshalb niemand.

Die Ängste bleiben dieselben, die Schlagwörter auch: Sexualstraftäterdatei, Berufsverbot, chemische Kastration. "Kastrieren macht weder chirurgisch noch chemisch einen Sinn", sagt Psychiater Eher. "Man kann eine pädosexuelle Orientierung nicht mit Hormonen behandeln. Sie können den Drang ein bisschen reduzieren, aber nicht die primäre Ausrichtung." 715 Sexualstraftäter haben Eher und sein Team in den vergangenen fünf Jahren begutachtet. Ergebnis: Nur ein Bruchteil - zehn Prozent - sei sexuell ausschließlich auf Kinder orientiert. "Diese Kernpädophilie ist nicht denkbar ohne die eigene Missbrauchserfahrung", sagt Eher.

Martin Dnik wirkt fast erleichtert, wenn er vom eigenen Missbrauch erzählen darf. Es ist das Erste, von dem er spricht, noch bevor das Aufnahmegerät auf dem Tisch liegt und er sich versichert hat, dass seine Geschichte für keinen der anderen Gäste im Lokal hörbar ist. Mit sieben Jahren wurde er vom Pfarrer betatscht, mit neun von der asthmakranken Tante, die vorgab, dem Legastheniker Nachhilfe zu geben, ihn dann aber zum Oralsex zwang. "Zuerst hat sie mich gebadet und eingeseift. Das hat mir noch gefallen, ich hab das ja nicht gekannt. Dann wollte sie, dass ich bei ihr etwas mache. Das hat mich sehr abgestoßen, die Haare und das Blut", erzählt Dnik und schüttelt den Kopf, als ob ihm die Tante ihre Schamlippen noch immer vors Gesicht hielte. Pädophile Frauen sind ein Randphänomen. Derzeit befinden sich unter den 297 Sexualstraftätern im Strafvollzug gerade einmal zwei weibliche Inhaftierte. "Bei Frauen passiert Missbrauch an Kindern oft unter dem Deckmantel des Säuberns", sagt die Psychiaterin Sigrun Rossmanith, die als Gerichtssachverständige inhaftierte Sexualstraftäter begutachtet und Richter über deren mögliche Entlassung berät.

Dniks Eltern glaubten der Tante mehr als dem eigenen Sohn. Grund genug für den damals Neunjährigen, sich das Leben nehmen zu wollen. Mit dem Fahrrad stellte sich Dnik auf einen steilen Hang und fuhr auf einer dicht befahrenen Straße direkt in ein Auto. Der Unfall zahlte sich aus: Die Nachhilfestunden bei der asthmakranken Tante hatten ein Ende. "Mein eigener Missbrauch soll keine Rechtfertigung und keine Entschuldigung dafür sein, was ich diesen Mädchen angetan habe. Dafür gibt es einfach keine Entschuldigung", wiederholt Dnik gebetsmühlenartig. Er sagt es mehr zu sich selbst als zu seinem Gesprächspartner.

Pädophile Sexualstraftäter wie Dnik, die ihre Tat bereuen, bilden im Verein Neustart eher die Ausnahme. Der Verein, zu dessen Aufgaben auch die Bewährungshilfe zählt, betreut zurzeit österreichweit 300 bedingt entlassene Sexualstraftäter. Zwei Drittel von ihnen haben Kinder missbraucht. "Ich fürchte, dass mehr von denen dabei sind, die behaupten, Teil einer geächteten Minderheit zu sein, die gesetzliche Änderungen verlangen und ihr Unrechtsverhalten nicht anerkennen", sagt die Psychologin Elisabeth Grabner-Tesar, Leiterin von Neustart in Wien-Floridsdorf. Dass die Vorliebe für vorpubertäre Körper in Aktivismus ausarten kann, beweist nicht zuletzt die Gründung der niederländischen Pädophilenpartei "Nächstenliebe, Freiheit und Vielfalt" (PNVD) Mitte vergangenen Jahres. Zu ihrem Programm zählt die Legalisierung von sexuellen Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern (siehe Interview Seite 20). Pädophil und stolz darauf, heißt die Devise. Mit dem Argument, dass "Kinder von sich aus Sex mit Erwachsenen haben wollen", haben sich längst weltweite Netzwerke von "Boy- und Girl-Lovern" entwickelt, die sich nicht länger ins Kinderschändereck verbannen lassen wollen.

Sie betreiben ihre eigenen Zeitschriften, Internetradios und Chats mit eigenen Pädo-Music-Charts und Hits wie dem Lied "Lolita" der Korsin Alizée. In Foren wie jenen der deutschsprachigen Online-Plattform k13-online.krumme13.org gibt man sich Tipps, wie Kinderpornos vom Computer entfernt und nach der Hausdurchsuchung wiedergefunden werden können. Die Kinderfotos auf den Homepages erinnern an eine Sammlung sorgfältig geführter Familienalben. Die Kinder lachen, schmollen oder geben sich verführerisch. Eigentlich komplett harmlos, aber die Botschaft ist eindeutig: Das Kind ist ein Lustobjekt, und damit kann jeder Quelle-Katalog zum Pornoheft werden.

"Ein gesunder Pädophiler wird sich niemals Kinderpornografie anschauen, wenn Kinder darauf vergewaltigt werden. Bei einhellig hergestellten Produktionen entsteht den Darstellern kein Schaden, und deshalb sollten diese legalisiert werden", sagt Dieter Gieseking. Der 52-Jährige war Vorsitzender des ersten deutschen Pädophilenvereins "Krumme13" und ist Betreiber der genannten Homepage. Der Vereinsname stammt von Laus Høybye alias Krumme, einem dänischen Kinderstar der Neunzigerjahre. Er war ein hübscher, blonder Schauspieler, von dem die Mitglieder der Gruppe besonders angetan waren. Seit 1995 unterstützte die selbst ernannte "Selbsthilfegruppe" rechtskräftig verurteilte Sexualstraftäter. Gieseking selbst wurde 1997 wegen des Besitzes von Kinderpornografie angezeigt und verbrachte zwei Jahre in Haft. "Bei den Filmen handelte es sich zum Teil um reine FKK-Aufnahmen. Ansonsten waren es Aufnahmen mit sexuellen Handlungen unter Kindern und Jugendlichen, aber auch mit Erwachsenen. Man kann als Zuschauer davon ausgehen, dass alle Beteiligten viel Spaß und Lust dabei hatten", sagt er heute.

Ab 2001 warb "Krumme13" öffentlich für die Legalisierung von Kinderpornos und setzte sich für eine Reform des Strafrechts ein. Ziel: "Einvernehmlicher" Sex zwischen Erwachsenen und Kindern soll erlaubt werden. "Die Sexualität macht grundsätzlich jedem Menschen und damit auch den Kindern Spaß. Kinderschützer jedoch manipulieren die Kids zum Neinsagen. Es wird ihnen eingeredet, dass eine sexuelle Beziehung zu einem Pädophilen nicht, normal' ist und ihnen schaden würde", sagt Gieseking. Vor vier Jahren hat der Verein seine Aktivitäten eingestellt. Zu groß seien laut Gieseking die "Hetzkampagnen" gewesen. Für einen stolzen Pädophilen sind Medien immer dankbar. Gieseking musste seinen Wohnsitz Trier verlassen, dann Unna und später auch Hamburg, weil besorgte Eltern vor seiner Wohnung demonstriert und Jugendliche Steine in seine Fenster geworfen hatten. Gieseking hat aus seinen Fehlern gelernt: Seinen jetzigen Wohnort gibt er nicht mehr bekannt. Seitdem betreibt der Hartz-IV-Empfänger die Website "K13-Online", die über Pädophilie "aufklären" soll. Dass Eltern besorgt sind, wenn sich herausstellt, dass ihre Kinder von einem Pädophilen betreut werden, führt er nämlich auf "reine Desinformation" zurück.

Vor allem in Sachen Jugendcamps glaubt der erfahrene Betreuer und Reiseleiter von Kinder- und Jugendaktivitäten, beruhigen zu können: "In einer solchen Gemeinschaft ist die Gefahr eines tatsächlichen sexuellen Missbrauchs äußerst gering. Im Gegensatz dazu spielen sich in solchen Gruppen sicherlich viele pädophile Kontakte ab. Oft sind es die Kids selbst, die die Initiative ergreifen. Alles geschieht natürlich im Geheimen, denn auch die Kinder wissen, was passiert, wenn es an die Öffentlichkeit kommt. Kluge und selbstbewusste Kids werden ihren pädophilen Freund niemals verraten", sagt Gieseking. Die Selbstverständlichkeit, mit der der Deutsche seine Argumente vorbringt und seine Parallelwelt legitimiert, irritiert. Ist es tatsächlich möglich, dass Kinder an Sex mit Erwachsenen interessiert sind?

"Wenn sich Sechsjährige einen Bleistift in den Po stecken und sich rubbeln, ist das etwas anderes. Man muss zwischen kindlicher Sexualität und den Vorstellungen von Erwachsenen strikt trennen. Pädophile wollen diese Grenze verschwimmen lassen", sagt der Kinderpsychologe Holger Eich vom Kinderschutzzentrum Wien, das jedes Jahr mehr als hundert missbrauchte Kinder betreut. Auch Psychoanalytiker Lackinger verneint die Frage klar: "Das Kind kann nicht sein Einverständnis zu etwas geben, das es sich aufgrund seiner psychischen Entwicklung nicht vorstellen kann."

Martin Dnik hat die Grenze überschritten. Und er kann sich noch genau an den Zeitpunkt erinnern. Er war gleich nach der Frühschicht zu Mittag zu einer Bekannten gefahren, um auf ihre zwei Kinder aufzupassen. Am Abend war die Mutter immer noch nicht aufgetaucht. Dnik saß vor dem Fernseher, als er plötzlich ein Stöhnen hörte. Er war beunruhigt und ging in das Zimmer der Siebenjährigen, das nur durch einen Vorhang vom Wohnzimmer getrennt war. Sie lag auf ihrem Bett und war dabei, sich selbst zu befriedigen. "Das war wie eine Genehmigung: Die kennt sich aus, die weiß eh, was das ist. So war das in meiner Fantasie", erinnert sich Dnik. Von da an änderte sich sein Verhalten: Er begann, die Siebenjährige und ihre vierjährige Schwester sorgfältiger und länger einzuseifen, sie zu befummeln, und immer öfter nahm er sie auf den Schoß. Am liebsten nackt.

Irgendwann ist es dann passiert. Am Vortag hatte er noch mit der Mutter gestritten und sich beklagt, dass sie seine Gutmütigkeit ausnütze. In die Siebenjährige ist er fast eingedrungen, bei der Vierjährigen hat er es mit dem Finger probiert. "Wenn sie von Anfang an gesagt hätte, ihr gefällt das nicht, hätte ich gar nicht weitergemacht. Als ich gemerkt habe, es kommt kein Widerstand, bin ich mutiger geworden und habe mich auch mehr getraut." Geweint habe sie schließlich erst danach. Er will es nicht als Rechtfertigung verstanden wissen, auch wenn es so klingt.

Ob sich Elisabeth Furthmüller gewehrt hat, weiß sie nicht mehr. Eigentlich kann sich die 47-jährige Künstlerin aus Steyr an beinahe überhaupt nichts mehr erinnern, was vor ihrem sechzehnten Geburtstag passiert ist. "Ich sehe nur, wie ich einem Mann die Hand gebe. Er geht mit mir in ein Zimmer und sperrt die Tür zu. Ich höre heute noch das Geräusch, wie er den Schlüssel umdreht. Er legt ihn auf einen Kasten und gibt etwas darauf." Dann bricht Furthmüllers Stimme. Sie wechselt das Thema und spricht über ihre Initiative "Tunnel der Marter", bei der sie den Missbrauch in Ausstellungen zu thematisieren versucht.

So emotional sie bei der Vorstellung ihres Projekts ist, so nüchtern wirkt sie, wenn sie über den Umgang mit Sexualstraftätern spricht: "Man muss sie therapieren. Aber man soll sie nicht aus der Verantwortung lassen." Wer Opfer schützen will, muss beim Täter anfangen: ein Ansatz, der hierzulande kaum verfolgt wird. Weiter westlich, in den USA, setzt man lieber auf Warnung. Nicht nur, dass jeder Sexualstraftäter in einer öffentlich zugänglichen Datei registriert ist, auch privat können sich besorgte Bürger dem Opferschutz verschreiben. Privatfirmen bieten Eltern einen entgeltlichen E-Mail-Service an, bei dem sie sofort verständigt werden, sobald ein Pädophiler in ihre Nachbarschaft zieht. Seit drei Jahren gibt es auf dem US-Fernsehsender NBC sogar eine eigene Realityshow, die sich ganz der Pädophilenjagd verschrieben hat. Bei "Catch the Predator" ("Fang das Raubtier") geben sich Journalisten in einschlägigen Chats als Teenager aus und vereinbaren Treffen mit potenziellen Tätern. Von Kamerateams und Polizisten begleitet, überführen sie die "Raubtiere" und übertragen das einmal die Woche direkt in amerikanische Wohnzimmer.

Martin Dnik haben keine Kameras ins Gefängnis gebracht. Nicht einmal Worte. Keines der Mädchen hat ihn verraten. Erst durch eine Zeichnung im Kindergarten ist der Missbrauch aufgeflogen. "Ich habe ihnen auch nie gedroht, dass sie nichts sagen dürfen", sagt Dnik, und seine Worte wirken fast ein wenig gönnerhaft. "Vielleicht war das ein versteckter Versuch, Hilfe zu kriegen. Wenn ich schon davor eine Therapie bekommen hätte, wäre es nie zu diesen Delikten gekommen." Genau hier setzt neuerdings die Berliner Charité an. Mit dem Projekt "Kein Täter werden" bietet das Institut für Sexualmedizin und Sexualwissenschaft des Berliner Universitätsklinikums eine präventive Behandlung von potenziellen Tätern an. Das Konzept: "Du bist nicht schuld an deinen sexuellen Wünschen. Aber du bist verantwortlich für dein sexuelles Verhalten." Mehr als 550 Männer sowie zwei Frauen haben sich seit der Gründung gemeldet. Genommen wurden 136, von denen die ersten 20 vergangenen Juni ihre Therapie abgeschlossen haben. Dass Prävention bei Pädophilen der beste Opferschutz ist, hat man auch in Österreich festgestellt. Seit 1984 bietet die "Männerberatung" all jenen Hilfe an, die ihre Probleme nicht mehr alleine lösen können: Gewalt, Beziehungskrisen, Vaterschaft - oder eben sexuelle Abweichungen. Jedes Jahr werden rund 200 Sexualstraftäter betreut.

Zwei Drittel haben mit dem Missbrauch von Kindern zu tun. Nur die wenigsten - an die 40 Männer - suchen die Stelle präventiv auf. Und das nicht freiwillig, sondern weil entweder der Freundin der besonders liebevolle Umgang mit Kindern aufgefallen ist oder der Arbeitgeber Kinderpornos am Computer entdeckt hat. "Es kommen in der letzten Zeit mehr und mehr Leute, die Kinderpornos konsumiert haben. Zum einen sind das Jugendliche, zum anderen Erwachsene. Diese kommen meistens aus der A-Schicht. Einerseits, weil sie Internetzugang haben. Andererseits können und wollen die sich auch eine Therapie leisten", sagt der Psychotherapeut der Beratungsstelle, Jonni Brem.

Mit der sozialen Herkunft der Täter hat Pädophilie nichts zu tun: Vom obdachlosen 19-Jährigen bis hin zum gut situierten Juristen sind alle dabei. Dennoch befinden sich unter den derzeit 170 inhaftierten Sexualstraftätern wegen Delikten an Kindern nur drei Akademiker. "Es ist schon so, dass die Gerichte anders urteilen. Bei einem Uniprofessor gehen die Richter davon aus, dass er mit dem Wissen, dass er erwischt worden ist, aufhören wird. Außerdem wird er sich auch einen besseren Anwalt leisten können", kritisiert Brem.

An Akademiker kann sich Martin Dnik während seiner sechsjährigen Haft kaum erinnern. Unter den 150 Mithäftlingen waren es nach seiner Schätzung vielleicht fünf, die lieber mit dem Herrn Magister als dem ortsüblichen Du angesprochen werden wollten. Die Wärter hätten keinen Unterschied gemacht, ihnen ging es um andere Dinge. "Einer, der das gemacht hat, was ich gemacht habe, ist dort der letzte Dreck. Unter mir sind nur noch die Kindermörder", erklärt Dnik die Gefängnishierarchie.

In den ersten zehn Monaten wurde Dnik von den anderen Häftlingen regelmäßig vergewaltigt und verprügelt. Während die Mörder, Diebe und Betrüger alle paar Wochen von den Wärtern gefilzt wurden, mussten die Missbrauchstäter und Vergewaltiger mit täglichen Besuchen rechnen. "Auch das Essen, das wir bekommen haben, war immer das mieseste", sagt Martin Dnik. Nach zehn Monaten wurde er als geistig abnormer Rechtsbrecher eingestuft und in der Folge in ein anderes Gefängnis verlegt. Von da an lief alles besser: Er erhielt eine eigene Zelle, es gab eine Gemeinschaftsküche und Gleichgesinnte, mit denen er Schach und Tischtennis spielen konnte. Und vor allem bekam er eine Therapie.

Heute geht er zweimal die Woche zu seinem Therapeuten. Mit ihm spricht er über zarte Asiatinnen, die er sich beim Masturbieren vorstellt, und über die Enkelin seiner Nachbarin, die er aber längst vor seiner Vergangenheit gewarnt hat. Was empfindet er, wenn heute ein kleines Mädchen vor ihm in die U-Bahn steigt oder wenn er an einem Spielplatz vorbeigeht? "Das interessiert mich nicht", schießt es aus ihm heraus. Zu schnell, wie ein Reflex, der da nicht hingehört. Dnik hat sich und seiner Umwelt Spielregeln aufgestellt. Nie wieder will er mit Kindern alleine sein. Ob sich Martin Dnik trotzdem vorstellen kann, eigene Kinder zu haben? "Warum nicht. Ich habe kein Problem damit", sagt er ernst.