1 Abo und 8 Abonnenten
Reportage

Die Alten von Stiege I

erschienen am 30.4.2008 in "Die Zeit"

Sie sind gebrechlich und vergesslich. Der Alltag überfordert sie. Ein neues Modell zeigt, wie Demenzkranken geholfen werden kann


Herr P. weiß, was Frauen wollen. Schwedenbomben, Früchtejoghurt und Komplimente. Damit kann jede Dame rechnen, auf die er ein Auge geworfen hat. In der Wohngemeinschaft ist er der Schwerenöter. Drei Frauen hat der 83-jährige Witwer bereits einen Heiratsantrag gemacht. Bisher ohne Erfolg.

Zurzeit ist seine Angebetete Frau N. Jeden Morgen steht er in seinem Trainingsanzug vor ihrer Zimmertür und weckt sie zum Frühstück. Er achtet darauf, dass sie beim Essen neben ihm sitzt und bewundert ihre zarte Haut. Doch Herr P. wittert Konkurrenz. Immer wieder kommt ein junger Mann bei Frau N. vorbei, der gerade mal halb so alt wie er ist. Heute war der Kerl wieder mit ihr duschen. Mit ihm kann Herr P. offenbar nicht mithalten, da helfen weder seine sorgfältige Frisur noch seine schlanke Figur. "Die haben eindeutig ein Verhältnis. Aber sie streitet alles ab", sagt Herr P. und verlässt das Wohnzimmer. Er will die Angebetete mit seinem Verdacht konfrontieren. Wieder einmal. Oft war er schon in ihrem Zimmer, so oft, dass er nicht einmal mehr beim Eintreten anklopfen muss, so vertraut ist er mit Frau N. Nun irrt er im Flur umher, langsam, mit kleinen Schritten, vorbei an diversen Zimmern, bis er vor einer Tür stehen bleibt. "Hier wollte ich doch gar nicht hin", murmelt er und betrachtet verärgert das Schild an der Tür. Es ist sein Name, der darauf steht.

Seit vergangenem Dezember lebt Herr P. in einer Wohngemeinschaft. Ihre Bewohner sind alle älter als 69. Es ist die erste WG für Demenzkranke, ein Modellversuch, der zeigt, wie Altenpflege einmal aussehen könnte. Hier geht es um mehr als um Waschen und Füttern. Das Konzept klingt simpel: Die hilfsbedürftigen Senioren sollen ihren Alltag unter ihresgleichen verbringen. Wer dement ist, vergisst mehr als nur die Brille oder das Kennwort für das Sparbuch. Er vergisst, wofür ein Shampoo gut sein soll, was es mit einer Zahnbürste auf sich hat oder dass ein junger Mann, der immer wieder beim Duschen hilft, ein Pfleger ist und kein Nebenbuhler.

Derzeit leiden rund 100000 Österreicher an Demenz. Bei dem Großteil der Fälle handelt es sich um Alzheimer. Der Intellekt nimmt ab, die Persönlichkeit verändert sich, und man kann nichts dagegen tun. Die meisten Betroffenen werden von ihren Angehörigen zu Hause betreut, der Rest kommt in ein Pflegeheim, auf Stationen mit Mehrbettzimmern, isoliert von der Außenwelt. Die Wohngemeinschaft bietet eine Alternative. Sie liegt mitten in einem Gemeindebau aus den fünfziger Jahren in Wien Liesing, in unmittelbarer Nähe von Cafés und Supermärkten.

In dieser Umgebung, wo sich Jugendliche bei McDonalds verabreden und Eltern ihre Kinder nach der Schule vom Schnellbahnhof abholen, sollen sich die 15 Bewohner zu Hause fühlen. Jeder in der Wohngemeinschaft hat sein eigenes Zimmer. Auf den roten Türen steht der Name des jeweiligen Bewohners unter einem Bild, das ihn charakterisiert. Das kann ein tanzendes Paar sein, wie etwa für den Hobbytänzer Herrn P., eine Eisenbahn für den ehemaligen Bahnbeamten HerrnK. oder eine Harfe für die Musikliebhaberin Frau M. Jeder Bewohner kann sein Zimmer so einrichten wie er will, sei das nun mit einem alten Küchenholztisch, auf dem die Kinder vor Jahren einmal Namen und Herzen eingeritzt haben, oder einer Vitrine mit zahlreichen Pokalen, die an die Siege im Tischtennis erinnern. Keine Krankenhausbetten, keine schmalen Spinde und Nachtkästchen, wie man sie aus Pflegeheimen gewohnt ist.

Eine Leben ohne Schatten: Hinter jedem Quadratmeter steckt System

Seit fünf Monaten leben die Bewohner auf 470 Quadratmetern Tag und Nacht zusammen. In der Häckelstraße 4 waren die Nachbarn anfangs beunruhigt über die Alten von der Stiege I. "Gehen die eh nicht auf die Kinder los", erinnert sich Sabina Dirnberger an die Befürchtungen. Sie ist Pressesprecherin der Caritas Socialis, welche die Wohngemeinschaft ins Leben gerufen hat. Ein paar Mieterversammlungen später konnten die Nachbarn überzeugt und das Projekt nach zwei Jahren Planung mit finanzieller Unterstützung der Stadt Wien umgesetzt werden. Von umherirrenden Alten ist im Stiegenhaus keine Spur. Die Wohnkommune, die aus zwei zusammengeschlossenen Wohnungen besteht, unterscheidet sich äußerlich in nichts von den anderen grauen Gebäuden des Gemeindebaus.

Wer die Wohngemeinschaft betritt, vergisst angesichts der leuchtenden Farben schnell, wie das Wetter draußen ist. Ihn erwarten gelbe Küchen, orangefarbene Wände und rote Türen und keine Schatten. "Die Deckenbeleuchtung kann so gesteuert werden, dass keine Schatten fallen, denn die machen Angst", erklärt Dirnberger. Hinter jedem Quadratmeter steckt System. Der Wandspiegel, die Sitzgarnitur, die Vase für den gesunden Betrachter schlichte Einrichtungsgegenstände, wie bestellt aus dem Ikea-Katalog, die genauso in jeder Studenten-WG stehen könnten. Für den demenzkranken Bewohner sind es hingegen wichtige Orientierungspunkte, die ihn von A nach B bringen und vor allem wieder zurück. Dank der eigenen Terrasse, die von zwei Eingängen begehbar ist, können die WGler stundenlang im Kreis durch die helle Wohnung wandern ohne verloren zu gehen. Sie sollen durch nichts irritiert werden. Deshalb wird auch der große Wandspiegel am Gang gelegentlich mit einer Decke verhüllt, weil Frau A. wieder einmal ihre Zwillingsschwester darin gesehen hat, die sie trotz mehrfacher Aufforderung nicht zum Spazierengehen überreden konnte. "Wenn sie wieder mit ihrer Schwester gesprochen hat, geht sie bügeln. So baut sie ihre Aggressionen ab", erzählt Pflegehelfer Andreas Portugaller. Mit sechs anderen Betreuern kümmert er sich um die zwölf Frauen und drei Männer. Alltag als Therapie, lautet das Motto der Wohngemeinschaft. Es wird eingekauft, gekocht und gewaschen. Nicht von den Betreuern, sondern von den Bewohnern selbst. Unter Anleitung schaffen selbst jene ihren wöchentlichen Waschtag einzuhalten, die längst vergessen haben, was eine Waschmaschine überhaupt ist. Damit bekommen sie ein Stück Autonomie zurück, die sie durch die Krankheit verloren haben.

Wer auf Besuch in der Wohngemeinschaft ist, wird auf den ersten Blick kaum erkennen, worin sich diese 15 Menschen in Schlafrock und Trainingsanzügen von gewöhnlichen Senioren unterscheiden sollten. Jeder hat seine eigenen Strategien entwickelt, wie er lästigen Fragen geschickt aus dem Weg geht. Frau W. wiederholt das Gesagte, Frau P. weicht auf die Familiengeschichte aus, und Frau S. kontert kokett: "Na sag du mir, wo ich gestern war?" Lieber, als die Frage nach dem Wochenende zu beantworten, erzählt sie von ihrer Schulzeit. "Keiner gibt gerne zu, dass er etwas vergisst. Das wird kaschiert, und die Verwandten übersehen das in den ersten Jahren", sagt der Neurologe Peter Dal-Bianco, Leiter der Ambulanz für Gedächtnisstörung im Wiener AKH.

In Pflegeheimen geht es um Sauberkeit, aber darum geht es nicht im Leben

Vor drei Jahren bemerkten ihre Angehörigen das erste Mal, dass Frau N. vergesslich geworden war. Damals lag sie wegen Herzproblemen im Krankenhaus und fand dort von der Toilette nicht mehr den Weg zurück in ihr Zimmer. "Von da an hat sie sich immer mehr verändert. Sie ist plötzlich bockig geworden", erzählt ihre Schwiegertochter Renate Kettner. Sie weigerte sich zu essen, stellte den Nachbarn schimmelige Essensreste vor die Tür, warf den Müll aus dem Fenster und verteilte Salat im Stiegenhaus. Irgendwann begann sie sogar Menschen zu sehen, die gar nicht da waren. "Ich hatte Angst, dass ein Nachbar sie anzeigt und sie am Steinhof landet", sagt Kettner. In der Wohngemeinschaft weiß die 58-jährige Pensionistin ihre demente Schwiegermutter gut aufgehoben. In der WG mit sieben Betreuern genießt sie einen Luxus an Aufmerksamkeit, den sich kein Pflegeheim leisten kann.

Die Zahl der Demenzkranken wird sich im Jahr 2040 auf bis zu 234000 Menschen erhöhen. Etwa sechs Prozent aller Menschen über 65 Jahre leiden bereits heute unter einer Demenz. Bei den über 90-Jährigen sind es sogar 40 Prozent. Neurologe Peter Dal-Bianco sieht in der WG ein Paradebeispiel für die Altenpflege von morgen: "In Pflegeheimen geht es primär um die Sauberkeit, aber darum geht es nicht im Leben. In alternativen Modellen werden Gemeinschaften gebildet, die Menschen finden neue Partner und Freunde. Der Trend geht in diese Richtung." Seit der Eröffnung haben sich bereits 40 Menschen bei der Caritas Socialis gemeldet und wünschen für sich oder ihre Angehörigen einen WG-Platz. Billig ist das Bügeln, Aufräumen und Waschen unter Anleitung nicht. Selbstständigkeit hat ihren Preis. Je nach der Pflegebedürftigkeit zahlen die Bewohner zwischen 3500 und 5000 Euro im Monat. Wer sich das nicht leisten kann, wird von der Stadt Wien unterstützt.

Gegenüber der Wohngemeinschaft befindet sich das Geriatriezentrum Liesing. Hier kommen auf 25 Patienten drei Krankenschwestern. Derzeit leben in dem Pflegeheim 212 Menschen, die meisten sind dement. Viele von ihnen können sich ohne fremde Hilfe kaum bewegen. Sie wohnen in Drei- und Vierbettzimmern, die Privatsphäre beschränkt sich auf ein paar Quadratmeter rund um das eigene Bett. Das soll sich bis 2010 ändern, wenn der Neubau des Pflegeheims fertiggestellt sein wird. Dann wird es auch zwei Demenzstationen geben, in denen jeder Patient sein eigenes Zimmer bekommen soll.

Die fehlende Privatsphäre und das Gefühl, sie nur mit einem Nachtkästchen alleingelassen zu haben, habe Renate Kettner daran gehindert, ihre Schwiegermutter Frau N. in ein Pflegeheim abzuschieben. In der Wohngemeinschaft lebt sie nun mit Schicksalsgefährten unter einem Dach und hat in Herrn P. sogar einen Verehrer gefunden. Gelegentlich kommt es Frau N. in den Sinn, warum sie in einer Wohngemeinschaft lebt und nicht mehr alleine in ihrer Wohnung. "Weil ich ein bisschen vergesslich geworden bin", sagt die 82-Jährige leise und fährt sich durch die weißen kurzen Locken. Während einige ihrer Mitbewohner am Nachmittag noch ihren Schlafrock tragen, hat sie sich mit einer dunkelblauen Stoffhose und einer eleganten schwarzen Bluse mit rosa Blumen fein gemacht. Zielstrebig geht sie in ihr Zimmer und deutet an, ihr zu folgen. Sie kramt aus einer Lade der Kommode eine Stofftasche hervor. Stolz präsentiert sie eine unscheinbare Brosche, die sich darin verbirgt. "18 Jahre war ich Krankenschwester", sagt sie. Sie steckt die Brosche wieder in die Tasche, nur um sie nach wenigen Sekunden wieder herauszuholen. "Haben Sie das schon gesehen?"