Ärger, Scham und Tränen - auch in diesem Jahr werden wieder 150.000 Schüler sitzen bleiben. Doch so furchtbar das Wiederholen für viele ist, es kann auch der Wendepunkt eines Schicksals sein.
Es wird sein wie jedes Jahr. Tage voll banger Fragen. Für Mütter und Väter und ihre Kinder. Wie werden die Halbjahreszeugnisse ausfallen? Welche Noten stehen da drin? Gute? Schlechte? Oder sogar jener Satz, vor dem alle Angst haben? "Die Versetzung ist gefährdet."
Der Satz ist eine Warnung an den Schüler. Er besagt: Es wird eng, mein Lieber. Streng dich an, sonst bleibst du sitzen. In ihm schwingt aber auch die Hoffnung mit, dass es doch anders kommt.
Bei einigen Schülern kommt es nicht anders. Etwa zwei Prozent von ihnen werden zum Schuljahreswechsel im Sommer wohl sitzen bleiben. In absoluten Zahlen sind das 150.000. Das entspricht in etwa der Einwohnerzahl von Osnabrück. Bedroht von der Nichtversetzung sind doppelt so viele Schüler, nämlich 300.000. Dabei sind die meisten von denen, die es letztlich erwischt, Jungen. Beim Schulversagen haben die Männer die Nase vorn.
Sitzen bleiben. Das klingt nicht schön, sondern nach Unglück. Nach Schülern, die in Tränen ausbrechen, wenn sie ihr Zeugnis bekommen. Oder es verschämt verstecken. Die Angst haben heimzugehen. Und die auf die Frage von Freunden und Verwandten "Na, was hast du denn für Noten?" den schulischen Offenbarungseid ablegen müssen. Scham in der Schule, Diskussionen in der Familie, Vorwürfe und Selbstvorwürfe der Eltern. Für viele wird der Start ins neue Schuljahr zum schweren Gang:
Ich bin ein Schulversager.
Doch damit muss kein endgültiges Urteil über das spätere Leben verbunden sein. Thomas Fischer, heute Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof, musste die sechste und die zehnte Klasse wiederholen und fasst seine Schulzeit heute so zusammen: "Ab der neunten Klasse schwänze ich regelmäßig, fahre mit Eisenbahn oder Fahrrad umher. Zeitvertreib: Flippern, Rauchen und erste Biere." Oder der Hochschullehrer Ahmet Toprak, heute mit Professur, damals mit Schwierigkeiten an der Hauptschule: "Niemand hat mir zugetraut, das Abitur zu schaffen. Meine Lehrer nicht, mein Vater nicht und ich mir selbst auch nicht."
Und die Eltern von Karl-Ludwig Kley, heute Chef des Milliardenkonzerns Merck, bekamen von den Lehrern zu hören, dass ihr Sohn nur deshalb nicht sitzen bleibe, weil er so nett sei. Im Matheabitur schrieb er eine Fünf minus. Erst mit 31 Jahren startete er sein "richtiges Berufsleben", ein sehr erfolgreiches sogar: Bevor er Merck-Chef wurde, war Kley, der miserable Matheschüler, Finanzvorstand der Lufthansa.
Die aufgezählten Menschen gehören zu jenen, die es geschafft haben. Sie waren einst katastrophale Schüler, sind aber irgendwann aufgewacht und haben ihr Schicksal in die Hand genommen. Manche, wie der ehemalige bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber, schon während der Schulzeit. Sabine Rückert, heute stellvertretende Chefredakteurin der ZEIT, hatte ein Heer von Nachhilfelehrern, versuchte es auf drei humanistischen Gymnasien und las trotzdem in jedem Halbjahreszeugnis den Satz: "Vorrücken sehr gefährdet." Erst nach der elften Klasse ging es steil bergauf. Rückert bilanziert: "Meinen beruflichen Erfolg verdanke ich meinen Lehrern am allerwenigsten."
Sechs klassische Schulversager berichten in dieser Ausgabe der ZEIT Chancen über ihre Erfahrungen. Unser Kolumnist Stephan Porombka faksimiliert sogar sein Zeugnis der achten Klasse. Deutsch, Musik, Geschichte, Erdkunde, Bio, Chemie: 4. Englisch, Französisch, Kunst, Mathe: 5. Nur in Sport leuchtet schüchtern eine 3. Heute ist Porombka Professor für Texttheorie an der Universität der Künste in Berlin.
Das Schulversagen unserer Autoren erscheint im Rückblick wie eine interessante Delle im Lebenslauf. Solchen Biografien ist es zu verdanken, dass dem Begriff des Schulversagers auch eine Faszination innewohnt. Und etwas Spielerisches.