Wenn es schneit und die Temperaturen
in den Keller gehen, wird es für einige Berliner besonders
gefährlich: die Obdachlosen auf den Parkbänken
und unter den Brücken der Hauptstadt. Um sie kümmert sich
der Kältebus. Nacht für Nacht.
Von Söhnke Callsen, dpa
Der erste Kunde an diesem Abend ist Horst. Horst will keinen Tee, keinen
Kaffee, kein Hanuta. Horst will einfach nur liegen und schlafen, hier auf
dieser gelben Plastikbank in Berlin-Kreuzberg. Das schummrige Licht der
Haltestelle leuchtet auf seine nackten Beine, die unter der viel zu
kurzen Jeans hervorschauen. Es sind zwei Grad unter Null.
Susannah Krügener gibt nicht auf. Schließlich ist das ihr Job. «Das kannst Du
nicht machen», sagt die 42-Jährige. «Es kann sein, dass Du diese Nacht nicht
überlebst.» Die kleine Frau mit den kurzen blonden Haaren und der
Brille gehört zum Kältebus-Team der Berliner Stadtmission. Zwischen November
und März fahren sie und ihre Kollegen Nacht für Nacht durch Berlin, um denen zu
helfen, die unter der Kälte besonders leiden: Menschen ohne Dach über
dem Kopf. Wie viele von ihnen dauerhaft auf der Straße
und unter den Brücken Berlins schlafen, weiß niemand
genau.
Kunden nennt Krügener die Obdachlosen. Ein Gespräch mit ihnen wird als Kontakt
auf dem Protokoll vermerkt und das Ziel ist der Transport: Wenn der Obdachlose
sich in eine der 30 Notunterkünfte der Stadt fahren lässt. Rund 700 Mal glückte
das dem Kältebus-Team in der vorangegangenen Wintersaison.
«Wer alleine gehen will, geht alleine.»
Horst ist ein schwieriger Kunde. Er ist vielleicht Mitte bis Ende 50, sein
graues Haar verfilzt, die Nase schief, so als wäre sie gebrochen und falsch
wieder zusammengewachsen. Auf seiner hellblauen Hose hat sich ein dunkler Fleck
vom Schoß bis zu den Innenschenkeln gebildet. Als Krügener ihm
aufhelfen will, rudert er wild mit den Armen.
Horst will es
alleine schaffen. Er geht nicht zum Bus. Horst hockt auf dem kalten Bürgersteig, setzt die Beine nach vorne und
zieht den Oberkörper nach, wie ein Kind, das seinen Schlitten im
Schnee beschleunigen will. Mit letzter Kraft zieht er sich
in den Bus, plumpst in den Sitz, erschöpft, aber stolz.
«Das bisschen Würde muss man ihnen lassen», sagt Krügeners Kollege John Lee und
schiebt die Seitentür mit einem Ruck zu. «Wer alleine gehen will, geht alleine.»
Tagsüber arbeitet der rundliche Berliner mit den schwarzen Haaren als
Projektmanager in einer IT-Firma, nachts verteilt er ehrenamtlich Schlafsäcke,
Isomatten oder heiße Getränke. Drei bis vier Mal die Woche fährt der 33-Jährige
nach Feierabend von neun bis drei Uhr nachts mit dem Kältebus durch Berlin.
Morgens um acht Uhr sitzt er wieder am Computer. «Ich gehe sowieso spät ins
Bett», sagt Lee und schiebt seine randlose Brille höher auf die Nase. «Bevor
ich vor der Glotze hänge, mache ich halt das hier.
Seine erste Tour war gleich die heftigste, erzählt er. Lee wurde von einem
Obdachlosen angesprungen, von anderen angepöbelt. «Ich dachte, wenn das immer
so ist, dann gute Nacht.» Doch es folgten auch ruhigere Fahrten.
Lee hat den Scheibenwischer eingestellt, es hat angefangen zu schneien.
«Wo fahren wir hin?», fragt er seine Kollegin. «Lehrter Straße?» Horst ruft
etwas Unverständliches von der Rückbank. Die «NÜ 1», wie sie auf der Straße
genannt wird, ist bei vielen Obdachlosen unbeliebt. Die größte Notübernachtung
der Stadt am Hauptbahnhof ist oft überfüllt, nicht selten kommt es zu Streit
und Schlägereien. «Na also dann NÜ 2», sagt Lee und steuert das Nachtlager an
der Johanniterstraße an.
Ein
Handkuss durch die Scheibe
Beißender Uringestank verbreitet sich im Auto. Krügener dreht die Heizung
runter. «Diese Straße kann aber auch lang sein», sagt sie leise zu Lee und
grinst.
In der Johanniterstraße wartet man schon auf Horst. Ein junger Mann mit
Gummihandschuhen und Pferdeschwanz durchsucht den Neuankömmling nach
Drogen, Alkohol und Waffen. «Na, dann machs mal jut», sagt Krügener. Als sie
die Rückbank des Autos mit Desinfektionsmittel besprüht, wirft Horst ihr von
drinnen einen Handkuss durchs Fenster zu.
Krügener ist gebürtige Berlinerin und hat evangelische Theologie studiert.
Pastorin war sie aber nie. «Hier ist christliche Nächstenliebe einfach am
nötigsten.» Ohne die Religion würde sie die Schicksale manchmal nicht ertragen
können, sagt sie. «Ich weiß, dass Gott alle Menschen lieb hat.»
Am Ostbahnhof steht Dieter und will mit. Dieter schaut einen nicht an,
sondern durch einen hindurch. «Mir geht’s so beschissen», murmelt er und
schwankt in den Bus. Vor zwei Tagen sei er verprügelt worden, erzählt
er. Von wem, das hat er vergessen. Dieter ist Ende 50, gelernter Schlosser und
kommt aus Bremerhaven. Mit seiner blauen Wollmütze, dem weißen Vollbart
und den Wunden auf der Nase sieht er ein bisschen aus, wie ein
Kapitän, der Schiffbruch erlitten hat.
Als seine Frau an Krebs starb, habe er die gemeinsame Wohnung nicht mehr
betreten können, erzählt er. «Sie war doch meine Maria», sagt er immer wieder,
«sie war doch meine Maria». Krügener nimmt seine Hand und betet leise mit ihm.
«Da
haben sie doch alle Läuse.»
Als der Kältebus wieder startet, stellt sich plötzlich ein kräftiger Mann
in den Weg. Krügener öffnet nicht die Tür, sondern lässt nur das
Fenster ein wenig herunter. «Mitnehmen, bitte», sagt der Mann. Warum er nicht
in die Notunterkunft gehe? «Hausverbot», sagt er. Er lehnt sich weiter ans Fenster,
als würde er jeden Moment hinein klettern wollen. Als Krügener höflich aber
bestimmt ablehnt, sieht man Wut in seinen Augen.
Fahrer Lee gibt langsam Gas. «Keine Hilfe», brüllt der Mann hinter dem Kältebus
her und gestikuliert. Krügener atmet tief durch. «In solchen Fällen muss man
sich dann auch selbst schützen», sagt sie. «Wenn einer in der Notunterkunft
Hausverbot bekommt, will das schon was heißen.» Angst habe sie bei Einsätzen
nicht, schließlich habe sie jahrelang als Karate-Trainerin gearbeitet. «Ich
musste meine Kampfsport-Erfahrung aber noch nie einsetzen.»
Das Kältebus-Handy klingelt. Der Sicherheitsdienst der U-Bahn hat mehrere
Obdachlose am Hansaplatz aufgegriffen. «Juti, wir kommen», sagt Krügener. Am
Eingang werden sie schon von Klaus empfangen, einem kleinen bärtigen Mann mit
rotem Gesicht. Er will mit, dafür bekommt er von Martina Häme. «Der feine Herr
lässt sich kutschieren», sagt die große Frau mit der Pudelmütze verächtlich.
Sie will nur einen Schlafsack und Isomatte. «Mich kriegt keiner in diese
Notübernachtungen, da haben doch alle Läuse», sagt sie.
Krügener vermerkt den nächsten erfolgreichen Transport. Lee gähnt,
die Uhr im Auto zeigt 2:30 Uhr. Auf dem Rückweg fahren sie noch am
Spreeufer entlang. Unter einer Brücke liegen fünf Mann und eine Frau
in einer Reihe, dicht an dicht. Zwischen ihnen Plastiktüten, Flaschen und
Klamotten. Krügener leuchtet mit der Taschenlampe. «Die sind gut ausgerüstet
und schnarchen, macht keinen Sinn, sie zu wecken», sagt sie. «Na also, dann
Feierabend», sagt Lee. «Jetzt geht’s ab ins Bett.»
Zum Original