Die ehemalige Bundesjustizministerin spricht über Datenmissbrauch, Böhmermann und einen EU-Beitritt der Türkei
Frau
Leutheusser-Schnarrenberger, Sie vergeben am Freitag in Bielefeld den
„Big Brother"-Award an Firmen und Personen, die sich mit Datenmissbrauch
hervorgetan haben. Was bringen solche Negativ-Preise?
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Ich halte diese Art, auf
Missstände aufmerksam zu machen, für sehr kreativ und gut. Das erweckt
Interesse und kann den Menschen bewusst machen, wo etwas nicht gut –
oder besonders gut – läuft.
Was ist der größte Datenskandal der vergangenen Jahre?
Leutheusser-Schnarrenberger: Der Datenmissbrauch durch
Geheimdienste, aufgedeckt durch Edward Snowden. Das hat eine unfassbare
Dimension. Darum ist auch die Entwicklung des BKA-Gesetzes so bedeutend.
Es muss verhindert werden, dass mit Daten verfassungswidrig umgegangen
wird.
Das
Bundesverfassungsgericht hat gerade entschieden, dass das BKA-Gesetz
nachgebessert und strenger gefasst werden muss. Vor dem Hintergrund der
Übergriffe auf Frauen in der Silvesternacht oder der Formierung rechter
Netzwerke wie in Sachsen – bräuchten wir da nicht mehr Befugnisse für
das BKA?
Leutheusser-Schnarrenberger: Es ist wichtig, zu differenzieren.
Überwachungskameras sollten ohne Frage an Plätzen angebracht werden, wo
Sicherheitsbehörden befürchten, dass etwas passiert. Dazu zählen
Bahnhofsvorplätze in Großstädten, nicht aber jeder Winkel der Stadt, wie
es in London der Fall ist. Das ist ein Eingriff in die Privatsphäre der
Menschen. Überwachung ist sinnvoll, wenn parallel ein Polizist vor dem
Bildschirm sitzt, um einschreiten zu können. Überwachung macht nur Sinn,
wenn auch eingeschritten werden kann und nicht bloß im Nachhinein die
Identifizierung der Täter einfacher wird. Die parallele Beobachtung ist
flächendeckend aber nicht zu leisten.
Wie oft hatten Sie es in Ihrer Amtszeit als Bundesjustizministerin mit datenschutzrechtlichen Vorfällen zu tun?
Leutheusser-Schnarrenberger: Eigentlich durchgehend. Besonders
die letzte Legislaturperiode war davon geprägt. Allein die Debatte um
die Vorratsdatenspeicherung hat vier Jahre gedauert. Es gab eigentlich
keine Zeit, in der kein Skandal passiert ist – ob NSA, NSU oder Vorfälle
bei Lidl, der Telekom oder der Bahn, wo plötzlich Prepaid- und
Kreditkartendaten auftauchten und missbraucht wurden. Das hat alles für
Aufregung gesorgt.
Für Aufregung sorgt gerade der Fall Böhmermann.
Die Kanzlerin hat dem Ermittlungsersuchen des türkischen Präsidenten
Erdogan nachgegeben. Ein paar Tage später wird ein ARD-Reporter am
Flughafen Istanbul festgesetzt. Was ist jetzt wichtig in der
Kommunikation mit der Türkei?
Leutheusser-Schnarrenberger: Man muss deutlich benennen, dass
dieses Verhalten gegen die Presse- und Meinungsfreiheit unerträglich und
nicht akzeptabel ist. Erdogan fordert, dass alle verstehen, dass er
sich beleidigt fühlt. Wir fordern, dass verstanden wird, was Presse- und
Meinungsfreiheit bedeuten. Journalisten müssen sich frei bewegen
können, auch in seinem Land, und zwar ohne Angst vor Festnahmen.
Wie kann man da der Türkei Gespräche über einen EU-Beitritt zusichern?
Leutheusser-Schnarrenberger: Ich denke, dass man mit der Türkei verhandeln muss und sie aufmerksam machen muss auf die Grundsätze der EU.
Die Grundsätze der EU sind aber nicht verhandelbar.
Leutheusser-Schnarrenberger: Nein, das sind sie nicht. Man muss
der Türkei aber klarmachen, wie weit sie sich von diesen Werten
entfernt. Die Türkei lieber in der EU haben zu wollen als nicht, ist
aufgrund der geografischen Lage des Landes richtig – aber nicht zum
Nulltarif. Ein Beitritt ist mit der derzeitigen türkischen Politik nicht
möglich.
Wie
viel Sinn oder eher Unsinn steckt in der Äußerung der Kanzlerin, den
Paragrafen 103 im Jahr 2018 abschaffen zu wollen, bis dahin aber zu
untersagen, dass sich auf diesen noch rechtskräftigen Paragrafen berufen
wird?
Leutheusser-Schnarrenberger: Das ist ein widersprüchliches
Verhalten. Wenn die Regierung den Eindruck hat, dass ein Paragraf nicht
mehr in die Zeit passt, muss er schnellstmöglich abgeschafft werden. Es
wäre aber für die Regierung auch ein Leichtes gewesen, keine
Ermächtigung zu erteilen. Aufgrund des persönlichen Strafantrags von
Erdogan hätte die Staatsanwaltschaft ohnehin ermitteln müssen. Die
Kanzlerin provoziert mit ihrer Entscheidung Konfliktsituationen, denn es
wird nun in Folgefällen schwieriger, politisch überzeugend zu agieren.
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„Big Brother-Award"
- Der Negativpreis „Big-Brother-Award" für Datenmissbrauch wird Freitag, 18 Uhr, in der Hechelei im Ravensberger Park in Bielefeld verliehen. Veranstalter ist der Datenschutzverein „digitalcourage".
- Der Preis für Datenkraken wird seit dem Jahr 2000 vergeben. Ausgezeichnet wurden bereits Google, Microsoft und die Telekom.
- 2014 gab es den ersten Positiv-Preis für Edward Snowden.
Menschenrechtler, Computerexperten sowie Daten- und Verbraucherschützer entscheiden über die Preisträger.
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