Sina Wollgramm

Journalistin, Musikmanagerin

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Wie das Internet Jerome Boateng zum Chuck Norris machte

Hit: Im Netz kursieren Sprüche wie: „Was ist der Unterschied zwischen Gauland und Boateng? Boateng schießt kein Eigentor". | © dpa, Melli_Minka,WernerDoye/Sina Wollgramm

Social-Media-Phänomen: Er überholt seinen eigenen Ball und kickt ihn von der Torlinie. Was der Abwehrchef im ersten deutschen EM-Spiel geleistet hat, führt im Internet zu Lobeshymnen und Bildmontagen


Bielefeld. Im 21. Jahrhundert braucht ein Retter kein Schwert, keinen Schild und keine Lanze mehr. Der Retter von heute befindet sich in einer fallenden Rückwärtsbewegung, die Arme bereit den Sturz abzufangen, das rechte Bein schwungvoll in die Luft gereckt, um mit den Stollen die Gefahr aus dem Netz, wenn nötig über den nächsten Gartenzaun, zu manövrieren. Diese Form der Rettung hat einen Namen: Jerome Boateng.


Zugegeben: Das Eigentor wäre auf seine Kappe gegangen, die gefährliche Situation vor dem Tor im ersten EM-Spiel der Deutschen von Boateng selbst herbeigeführt. Doch seine Rettungsaktion schmälert das nicht. Mit vollem Einsatz schafft es Jerome Boateng, seinen Fehler zu revidieren. Ergebnis: Deutschland gewinnt mit dem bisher höchsten Sieg (2:0) in diesem Turnier und das World Wide Web feiert Boateng mit Bildmontagen, Lobeshymnen und viel Spott gegen AfD-Vizechef Alexander Gauland.


Der hatte sich erst kürzlich blamiert, als er über den Berliner Boateng gesagt haben soll: „Die Leute finden ihn als Fußballspieler gut. Aber sie wollen einen Boateng nicht als Nachbarn haben." Schon da hagelte ein Shitstorm nach dem nächsten auf Gauland nieder. Das Netz zeigte sich solidarisch mit Boateng.


Eine Welle der Unterstützung für den Nationalspieler, die sich jetzt erneut aufbäumt. Da kursieren Montagen in Netzwerken wie Twitter, Facebook und Co., die Boateng in seiner Retter-Pose als Bezwinger großer Haie oder am Nachbarszaun zeigen. Auch in Computerspiel-Animationen macht Boateng eine gute Figur. Einige Fans sind sich sicher, mit Boateng hätte Deutschland die WM 1966 in Wembley gewonnen und montierten den Berliner kurzerhand auf die Torlinie in die spielentscheidenden Szene der finalen Partie gegen England im Wembley-Stadion.


"Boateng hat keine Angst vor Eigentoren. Eigentore haben Angst vor Boateng"

Es gibt nichts, was Boateng dank Montage nicht aufhalten kann. Das Soziale Netz macht ihn zum neuen Chuck Norris. Anspielungen auf den Actionfilm-Helden finden sich reichlich unter den Posts: „Boateng hat keine Angst vor Eigentoren. Eigentore haben Angst vor Boateng."


Mit Bildern alleine ist es aber nicht getan, auch die viel geposteten und gezwitscherten Kommentare triefen vor Genugtuung gegenüber Menschen mit rassistischen Vorbehalten. Selbst der sonst so diplomatische Bundestrainer konnte sich einen Seitenhieb auf Gauland nicht verkneifen. Joachim Löw: „Es ist gut, wenn man einen Jerome Boateng als Nachbarn in der Abwehr hat."


Gauland hatte das gesamte DFB-Team mit seiner Äußerung verärgert. Das brachte auch der verletzte und nach Hause geschickte Teamkollege Antonio Rüdiger zum Ausdruck. Er schrieb ganz simpel „Lieblingsnachbar" unter ein Foto, auf dem sein üblicher Nebenmann ins Tornetz fliegt. Es ist längst das Bild des Spiels und das Thema des Tages - wenn nicht sogar des gesamten Turniers.


Und vielleicht prangt das Foto der Spielszene schon bald auf der nächsten Edition der Kinderschokolade. Die hatte vor Beginn der Europameisterschaft unter den Pegida-Anhängern für Aufregung gesorgt, denn Ferrero brachte eine EM-Edition heraus, auf der Kinderfotos von Boateng und Gündogan zu sehen sind. Ganz erkannt, was hinter der Kampagne stand, wurde bei Pegida nicht. So schrieb ein Herr Gollmer: „Die versuchen, einem echt die Scheiße als normal unterzujubeln, armes Deutschland." Ein Herr Schulte wollte wissen: „Sind das Warnungen vor zukünftigen Terroristen?"


Wie viel Deutschland in angeblich so volksvernarrten Pedigisten steckt, wenn diese nicht einmal die Deutsche Nationalmannschaft erkennen, bleibt fraglich. Nach Boatengs Meisterleistung dürfte die Kinderschokolade mit seinem Aufdruck sicher gut über den Tresen gehen. Wie es Twitternutzer Alf Frommer schrieb: „Jetzt weiß auch Gauland, wer Jerome Boateng ist."

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