Nepal nach dem Beben: "Leichte Beute für Menschenhändler"
Tausende nepalesische Mädchen und Frauen werden verschleppt - viele landen in indischen Bordellen. Hilfsorganisationen warnen: Nach dem Beben ist die Gefahr gestiegen, Menschenhändler nutzen die Not der Bevölkerung aus.
Reenas Familie hat bei dem Beben alles verloren: Das Haus ist
eingestürzt, das Vieh tot, die ohnehin wenige Habe verschüttet. Die
Familie haust unter einer blauen Plane. Zum Überleben ist sie auf die
Unterstützung von Hilfsorganisationen angewiesen. Ein Mann versprach der
15-jährigen Reena ein besseres Leben: als seine Ehefrau in Indien. Reena ging mit dem Mann mit.
An der Grenze wurden die Polizei und Maiti Nepal, die führende nepalesische Organisation im Kampf gegen Mädchenhandel und Zwangsprostitution, auf die beiden aufmerksam. Befragungen ergaben Unstimmigkeiten. Die Polizei nahm den Mann fest, Reena brachte man in das Schutzzentrum von Maiti Nepal in Kathmandu.
"Mädchen und junge Frauen sind jetzt leichte Beute für
Menschenhändler", sagt Bishwo Khadka, der Direktor von Maiti Nepal. Etwa
2,5 Millionen Menschen sind nach den verheerenden Erdbeben in Nepal obdachlos geworden. Viele haben kein Geld, keine Vorräte, keinen Job.
Immer noch bebt jeden Tag die Erde. "Es ist verständlich, dass Menschen
diesem Schicksal entkommen wollen. Wenn da jemand einen Ausweg in der
Stadt oder im Ausland verspricht, greifen viele zu", sagt Khadka.
Schon vor dem Beben war die Gefahr von Menschenhandel in dem Himalaya-Staat groß. Nepal ist eines der ärmsten Länder der Welt, die Arbeitslosigkeit ist hoch, für viele bleibt nur der Weg ins Ausland. Männer gehen meist als Arbeitsmigranten in die Arabischen Emirate, Frauen arbeiten in Hongkong oder Indien in Privathaushalten oder Restaurants - wenn es gut läuft. Denn viele Nepalesinnen, oft Minderjährige, werden in den Nachbarländern Indien und China zur Prostitution gezwungen. Mehr als 16.000 Menschen werden jedes Jahr aus Nepal verschleppt, wie Maiti Nepal unter Berufung auf die nationale Menschenrechtskommission berichtet.
Leichtes Spiel in abgeschiedenen Dörfern
Seit dem Erdbeben am 25. April hat Maiti Nepal mehr als 200 Kinder
aufgegriffen. Die meisten der Mädchen kommen aus nördlich von Kathmandu
gelegenen Regionen. Diese wurden besonders schwer von den Beben
getroffen, waren aber auch vor der Katastrophe schon ein beliebtes
Revier von Schleppern. Viele Dörfer liegen sehr abgeschieden, Mädchen
gehen meist nicht lange zur Schule, die Menschen sind gutgläubig,
manchmal naiv. "Das Beben verschärft gerade dort die Situation, dass
Mädchen und junge Frauen belogen, ausgebeutet und missbraucht werden",
sagt Khadka.
Das Kinderhilfswerk Unicef hat in den vergangenen Wochen zusammen mit der Polizei und dem Central
Child Welfare Board (CWCB) 95 Kinder retten können. 25 seien auf dem Weg
nach Indien gewesen, die anderen seien in illegalen Einrichtungen in
Nepal gefunden worden. "Die schlimmen Lebensbedingungen nach den zwei
Erdbeben machen es Kriminellen leicht, Eltern davon zu überzeugen, ihre
Kinder wegzugeben, damit sie ein mutmaßlich besseres Leben haben", sagt
Virginia Perez, die Leiterin des Kinderschutzes bei Unicef Nepal. "Doch
viele Kinder landen in Kinderheimen hier in Nepal oder im Ausland, wo
sie dann ausgebeutet und missbraucht werden."
"Die Mädchen sind traumatisiert"
"Bei unseren Ermittlungen in indischen Rotlichtvierteln hören wir,
dass in den vergangenen Wochen zahlreiche nepalesische Mädchen 'auf den
Markt gekommen' seien", sagt Triveni Acharya, Direktorin der in Indien
tätigen Rescue Foundation. Allein in der ersten Juni-Woche befreite ihr Team aus einem Bordell in
der Stadt Bhiwandi und einem Etablissement in Agra insgesamt 15
Nepalesinnen. "Ein Mädchen fanden wir in einem doppelten Boden, einer
sogenannten versteckten Zelle. Andere waren in Zimmern eingeschlossen",
berichtet Triveni Acharya. "Die Mädchen sind traumatisiert und werden
psychologisch betreut."
In Nepals Katastrophengebieten wählen die Schlepper inzwischen offenbar
besonders perfide Methoden: Einige geben sich nach Informationen von
Maiti Nepal als Mitarbeiter von Hilfsorganisationen aus. "Ich habe
gehört, dass sich in einem Zeltlager hier in Kathmandu jemand als
Mitarbeiter von Maiti Nepal vorgestellt und Hilfe für Kinder angeboten
haben soll", sagt Bishwo Khadka. Es gebe außerdem das Gerücht, dass
bereits inhaftierte Schlepper aus zerstörten Gefängnissen ausgebrochen
seien und ihre Geschäfte wieder aufnähmen.
Hilfsorganisationen, Polizei und Regierung setzen nun an mehreren Stellen an: Sie verstärken Grenzkontrollen, trainieren Grenzbeamte, sensibilisieren die Bevölkerung für das Thema. Unicef hat nach eigenen Angaben 40.000 Informationsbroschüren verteilt.
Aufgegriffene Mädchen kommen erst einmal bei Maiti Nepal unter. Sie
können nach Hause zurückkehren, wenn ihre Familie noch lebt und sie
dorthin zurück möchten. Wer allein ist oder eine Ausbildung machen
möchte, kann bleiben. Maiti Nepal betreut im Haupthaus in Kathmandu
derzeit rund 480 Frauen und Kinder und betreibt an weiteren Orten im
Land Frauenhäuser und Ausbildungsstätten.
Die 15-jährige Reena möchte im Schutzzentrum in Kathmandu bleiben. Sie möchte zur Schule gehen und träumt davon, eines Tages ein eigenes Geschäft zu eröffnen.