Wer in Österreich schwer erkrankt und nicht mehr arbeiten kann, lebt meist am Existenzminimum. Eine neue Reform soll die Situation Betroffener verbessern, tut das aber nur halbherzig.
Auch der Arbeitsrechtler Wolfgang Mazal von der Universität Wien ortet in der Reform ein Ungleichgewicht. Über Jahrzehnte hinweg seien Invaliditätspensionen leichtfertig vergeben worden. Profitiert hätten davon vor allem Privilegierte, also jene, die Berufsschutz genießen. "Viele öffentliche Gelder wurden dafür ausgegeben, statt sie dorthin zu leiten, wo Menschen tatsächlich in den Seilen hängen", sagt Mazal, "also zu Menschen mit langzeitig schweren Krankheiten, die wirklich nicht arbeiten können." Die Reform bemühe sich zwar um eine Wiedereingliederung von Menschen in den Arbeitsmarkt, "aber es wird leider kein zusätzliches Geld für die wirklich massiv Betroffenen in die Hand genommen". Und noch ein Manko sieht Mazal: Das Rehabilitationsgeld zahlt die Krankenkasse, das Übergangsgeld die Pensionsversicherung und das Umschulungsgeld das AMS. "Es besteht natürlich die Gefahr, dass Betroffene zwischen den Versicherungsträgern hin- und hergeschoben und Kranke in Schulungen gesteckt werden."
Montag, 10 Uhr, der erste Schultag nach den Sommerferien. Alexander B. sitzt auf der Ledercouch in einem Haus in Stockerau im Weinviertel, sein Sohn ist gerade nach Hause gekommen. Der Bub setzt sich neben den Papa und legt sich zwei Stoffkrokodile über das Knie. Soeben ist er in die vierte Klasse Volksschule gekommen, er besucht den Karatekurs und spielt Schlagzeug. Das macht den Vater stolz, stellt ihn aber auch vor finanzielle Probleme. Denn seit seiner Kindheit leidet der 33-Jährige an Morbus Crohn, einer chronisch entzündlichen Darmerkrankung. Im jungen Erwachsenenalter nahm die Krankheit einen schweren Verlauf mit Darmverschluss, großem Gewichtsverlust und zahlreichen Operationen, phasenweise wog er nur noch 45 Kilogramm. Alexander B. konnte nicht mehr als Behindertenbetreuer arbeiten und beantragte die Invaliditätspension.
Vor einem Jahr zog er von Salzburg in das Haus seiner Großmutter in Stockerau, da er sich die Miete in Salzburg nicht mehr leisten konnte. Mit dem Umzug änderte sich auch der zuständige Amtsarzt bei der Pensionsversicherungsanstalt, der alle zwei Jahre über die Verlängerung der Pension entscheidet. Nach einigen Tests habe dieser zu ihm gesagt: "Sie sind ja gesund!" So wurde Alexander B., dem erst vor wenigen Monaten wieder ein Stück des Dickdarms entfernt wurde, die Pension nach sechs Bezugsjahren gestrichen. "Ich bin keiner, der herumjammert, und von außen schaue ich ja gesund aus", sagt er. "Aber es ist halt eine innere Krankheit." Getestet habe der Arzt dagegen vor allem seine neurologischen Funktionen, "das hatte gar nichts mit meiner Krankheit zu tun". Er hat gegen den Bescheid der Pensionsversicherung berufen - ohne Erfolg. Das Sozialgericht in Korneuburg berief sich auf das erste Gutachten des PVA-Amtsarztes, Befunde von B.s bisherigen Ärzten berücksichtigte es nicht. Er will nun einen neuen Antrag stellen und deshalb nicht seinen vollen Namen nennen.
Alexander B.s Couchtisch quillt beinahe über, nicht nur vor Spielzeug und Rechnungen, sondern auch vor Medikamenten. Durch die Medikamente ist sein Immunsystem so sehr geschwächt, dass es ihm laut Bundessozialamt unzumutbar ist, mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren. Er meidet Menschenansammlungen, um sich nicht mit Krankheiten anzustecken. Die Pensionsversicherungsanstalt attestiert ihm dennoch Arbeitsfähigkeit. Dass sie kranke Menschen gesundschreibt, weist die PVA jedoch zurück, das Missverständnis liege vielmehr bei den Betroffenen. "Hinsichtlich der Begutachtung haben wir ein Massenverfahren abzuwickeln. Dabei ist es nicht ausgeschlossen, dass die individuelle Wahrnehmung mancher Antragsteller nicht mit den objektiven medizinischen Daten übereinstimmt", schreibt eine Pressesprecherin per Mail.
Heute bezieht Alexander B. eine Notstandshilfe von 740 Euro im Monat. Die Mutter seines Sohnes lebt in Salzburg, das Paar hat sich nach der Geburt des Sohnes getrennt. Sie arbeitet Teilzeit bei der Volkshilfe und kommt monatlich auch nur auf einen Verdienst von rund 700 Euro. "Ich weiß ja selber, wie wenig das ist - da kann sie nicht auch noch Alimente zahlen", sagt Alexander B. Sie haben sich auf ein gemeinsames Sorgerecht geeinigt, ohne Gerichtsurteil. Sie kümmert sich in den Ferien um den Kleinen, mit mehr als einem Besuch und einem Lebensmitteleinkauf hie und da kann sie die beiden aber auch nicht unterstützen.
Wie Alexander B. würden viele durch Krankheit in die Armut schlittern, sagt Andrea Pirker von der Krebshilfe Wien. "Betroffene sind in einer Abwärtsspirale, weil sie sich nicht mehr durch ihren bisherigen Erwerb ihre Existenz sichern können." Wie dramatisch die Situation wird, hängt letztlich vom privaten Umfeld ab: "Da geht es dann darum, dass man dem Betroffenen Geld borgt oder einmal die Versicherung bezahlt. Aber sobald dieses soziale Netz brüchig ist, ist der Staat immer weniger in der Lage, das aufzufangen." Die Probleme bauen sich oft so lange auf, bis es zu spät ist. Denn wer plötzlich mit seinem Tod oder einer einschneidenden Erkrankung konfrontiert ist, kümmert sich selten um komplizierte Sozialgeldbezüge. Erst mit der Zeit wachsen sich die Einkommenseinbußen zu wirklichen finanziellen Problemen aus. "Ich erlebe es sehr oft, dass sich die Menschen erst dann darum kümmern, wenn schon Exekutionstitel da sind oder sie delogiert werden", sagt Pirker. Oder wenn der Privatkonkurs droht. "Wenn ich in Privatkonkurs gehe, muss ich meine Schulden mindestens sieben Jahre abzahlen. Wir sehen aber oft, dass Schwerkranke die Befreiung ihrer Schulden gar nicht mehr erleben, weil sie vorher sterben", sagt Alexander Maly, Geschäftsführer der Schuldnerberatung in Wien. "Der Gesetzgeber macht in Österreich keinen Unterschied, ob jemand nicht zahlen will oder nicht zahlen kann."
So weit ist es für Katharina nicht gekommen. Sie handelte mit ihrem bisherigen Arbeitgeber, einem Wirtschaftsprüfer, einen Deal aus: Er erklärte sich bereit, sie offiziell wieder für 13 Wochen anzustellen - selbst wenn sie gar nicht arbeiten kann. Eine Scheinanstellung. Das wäre zwar illegal, würde Katharina aber den Krankengeldbezug für weitere 52 Wochen sichern. Und ihr den Umzug in eine billigere Wohnung ersparen, den sie sich geschwächt von Chemo- und Strahlentherapien ohnehin kaum zugetraut hätte. Denn die Chemotherapien griffen immer mehr ihre Haut, ihre Haare und ihr Blut an, nicht aber die Metastasen. Katharinas Blutwerte wurden schließlich so schlecht, dass der nächste Zyklus der Chemotherapie verschoben werden musste. Dann die Nachricht: Der Krebs war bis in ihr Gehirn vorgedrungen. "Ein halbes Jahr war ich im Delirium im verzweifelten Kampf gegen diese blöden Tumorzellen", schrieb sie vor einigen Monaten nieder. Im September war der Kampf endgültig vorbei. Wenige Tage nach einer Notoperation erlag Katharina in Wien ihrem Krebsleiden.