Von SIMON HAUCK
Lemkes Film rockt. Auch nach 40 Jahren schlägt "Paul", der zweite Film aus der Hamburger Periode, direkt zu wie mit einer Eisenfaust! Der titelgebende Knacki (Paul Lyss) wird nach sieben Jahren Zuchthaus entlassen und hat mit Zuhälter Jimmy (Jimmy Braker) noch eine alte Rechnung offen. Schlappe 250.000 Mark hätte er von der Hamburger Kiezgröße gerne wieder - und zwar sofort. Und so sucht er schnell Kontakt ins gut vertraute Rotlichtviertel der Hansestadt. "Geschichte eines Ausgestoßenen", hat der Münchner Undergroundfilmemacher seine dreckige Kiezballade von 1974 im Untertitel einst genannt. Und das wird auf der Bild- und Tonebene sofort eingelöst: verwackelte Handkamera (Lothar E. Stickelbrucks), stechende Tinnitustöne (Werner Vittiglio) und eine offen sprunghafte Montage (Peter Przygodda). Dazu echte Milieugrößen, in ihrer Präsenz keineswegs laienhaft, sondern wunderbar ungekünstelt.
Schon in den 1970ern legte Deutschlands letzter Guerillaregisseur einfach drauf los. Ohne Drehbuch, mit der puren Lust auf das sich zwangsweise Ereignende. Als kleines Fernsehspiel zur Hauptsendezeit wurde "Paul" einst ausgestrahlt, aus heutiger Perspektive immer noch unvorstellbar. Überaus mutig war das deutsche Fernsehen einmal, das den so genannten "Jungfilmern" zu dieser Zeit unglaublich reiche Arbeitsbedingungen ermöglichte, es geradezu nach vorne pushte. Mitten hinein in die ansonsten eher biedere Samstagabendunterhaltung. "Wir wollten das unbewusste Kino, gar nicht erst wissen, wie ein Film ausgeht", betonte Lemke gestern Abend anlässlich seiner Hommage auf dem Filmfest München treffend.
Das war auch das eigentlich Neue in filmischer Hinsicht, weil der bayerische Großstadtcowboy den aufbrausenden Paul Lyss in der Hauptrolle einfach ungezügelt auf die Wohnzimmercouch losrennen ließ. Ohne Rücksicht auf Verluste. So stürmt der rastlose Titelheld zuerst eine Millionärsparty kunsthandelnder Aristokraten und schlägert sich gleich ruppig mit dem Hausherren Murnau (!), wunderbar lässig Friedhelm Lehmann, dem einzigen echten Schauspieler in diesem furiosen Typenensemble. Dann spannt er ihm die trautrig-trotzige Gattin (Sylvie Winter) aus und quartiert sich kurzerhand mit einem Tross von Rotlichtwesen gleich in die noble Villa an der Elbchaussee ein.
Paul, urgewaltig-ungestüm, auftrumpfend und völlig außer Rand und Band, bringt den verdutzten Hausbesitzern sein Motto von der Straße rabiat näher: "Entweder wir hauen uns in die Fresse - oder wir lieben uns!" Die feine Gesellschaft reagiert zuerst pikiert und will das verruchte Pack rasch loswerden. Doch eine der Nutten bringt die Essenz der Handlungsfetzen beim festlichen Diner auf den Punkt: "Wir sind kein Scheißhaufen!" Auch zwielichtige Gestalten dürfen auf ihre Menschenwürde pochen. Dann explodiert der Plot vollends und die spontane Hausparty beginnt. Bis zum Exzess, weniger gilt nicht bei Lemke. Es wird wild getanzt und gegrabscht. Das feine Essen fliegt durch den Saal - genauso die zahllosen Unflätigkeiten.
Hier ist der heute 74-Jährige Regisseur vollends in seinem Element und darin besteht auch sein filmhistorisches Verdiest. Niemals zuvor hatte man im deutschen Fernsehen solch ein Arsenal an Alltagssprache ("Alles Ochse!") und Kiezgetue gesehen oder gehört. Ein einziger Lebensrausch in Mundart ("Dicker") und Direktheit ("Du machst die Fliege") ist dieses zeitlose Frühwerk Lemkes. Bevor es zum Showdown in der puffigen Kiezbar kommt, stört es absolut niemanden mehr, dass der Kameramann Paul - deutlich hörbar - in der Parkanlage hinterher hatscht. Extreme Unschärfen, ratterndes und flatterndes Neonlicht - und Roxy Music auf Anschlag gedreht. Pure Aktion, eruptive Gewalt: Zwischen sündhaft teurem Porzellan und Nuttenstriptease lässt Lemke "das bösartige Tier", so bezeichnet er selbst das Medium Film, lustvoll aus dem Sack. Mit einem abgefuckten James-Dean-Rowdie in der Hauptrolle, der stets im gleichen Anzug unterwegs ist. Befreundet alleine mit einer billigen Plastiktüte. Ungestümer und rauer ging es selten zu im "Neuen Deutschen Film". Auch heute noch ein herrlich roher Straßenköterfilm: Unvergleichbar.