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Nach Massen-Rave auf der Spree: Wie ignorant ist die Berliner Technoszene?

Kultur, Musik und Parties sind systemrelevant. Zweifelsohne: In einem ganz anderen Maße und auf einer anderen Ebene als etwa Institutionen wie Krankenhäuser oder Einrichtungen, die die Grundversorgung von uns allen sichern. Kann uns aber keiner erzählen, dass er oder sie nicht in den letzten Wochen gezielt Musik, Literatur oder Filme konsumiert hat, um einfach mal abzuschalten, um nicht ständig diese leidigen Corona-Themen vor Augen zu haben. Kunst ist Eskapismus und sich ab und an ordentlich wegzuballern ist, vor allem in Krisenzeiten, manchmal mehr als heilsam.

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Deshalb verstehen wir durchaus, dass allerorts der Bedarf nach Feiereien groß ist. Vor allem in Berlin, wo die Clubszene legendär ist und zum festen Kulturrepertoire der Stadt gehört. Das sich am Pfingstmontag aber bis zu 1500 Menschen dicht an dicht am Ufer und noch mal etwa genauso viele in 300 bis 400 Booten aufhielten und eine fette Party veranstalteten, ohne Masken, ohne Sicherheitsabstände, mit so lauter Musik, dass die Polizei einschreiten musste und sich der Höhepunkt des Fluß-Raves ausgerechnet vor dem Berliner Vivantes Krankenhaus ereignete, ist aber einfach nicht in Ordnung. Mehr noch: Es ist blanker Hohn - und zwar auf mehreren Ebenen.

"Fuck You" an Corona - oder an die Corona-Bekämpfenden?

Die Feiernden, ähhh sorry, Demonstrierenden, hätten den Ärzt*innen, Krankenpfleger*innen, Rettungssanitäter*innen und Corona-Erkrankten vermutlich kein prägnanteres "FUCK YOU!" ins Gesicht schleudern können, als feiernd im Schlauchboot beim Sektflaschen-Rumreichen. Hallo an die schnellgemachten DIY-Virenschleudern.

Die Veranstaltenden des Ganzen? Eigentlich ein lockerer Zusammenschluss aus Akteuren der Clubszene, speziell aber hauptsächlich der Club Kater Blau und die Partyreihe Rebellion der Träumer. Letztere räumten auf ihrer Facebook-Seite dann hinterher auch ein, dass der Ort der Kundgebung "mehr als schlecht gewählt" worden sei. Auch der Kater Blau stimmt dieser blassen Entschuldigung zu, außerdem wird betont, dass man von der Menge an Menschen überrannt worden sei. Man habe mit weniger Teilnehmenden gerechnet.

Ja, man könnte von erprobten Partyplanern eigentlich mehr erwarten, als ein überfordertes "Huch, wo kommen die denn jetzt alle her?" Etwa ein kleines bisschen Weitblick für ein mögliches Ausmaß der Kundgebung - schließlich sind die gemeinen Partyjünger*innen dank des Lockdowns mittlerweile völlig ausgehungert.

Aber gut: Könnte man ihnen ja sogar alles durchlassen und sagen, dass es tatsächlich nicht absehbar war, was für ein Andrang da auf einen zukommt. Sind ja schließlich keine Hellseher*innen die Kater und Traumrebellen. Was man aber hätte erwarten können, ist eine gewisse geistige Bereitschaft und Fähigkeit, um anzuerkennen, dass es aktuell doch um Wichtigeres geht, als die eigenen Anliegen und die unbedingte Feierwut.

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Denn: Nur wenige Meter weit entfernt vom feucht-fröhlichen Landwehrkanal-Ufer, wo man so fleißig "für die Kultur" demonstrierte, fand eine #BlackLivesMatter-Demonstration statt. Es wurde gegen strukturellen Rassismus demonstriert und sich stark gemacht für den ermordeten Amerikaner George Floyd, der Opfer von rassistisch motivierter Polizeigewalt wurde. Ein globales und wichtiges Thema, dass eindeutig über die Frage danach, wann wir das nächste Mal feiern dürfen, hinaus geht, oder etwa nicht?

Der Kater Blau erklärte in einem Statement, dass man keine Konkurrenz-Veranstaltung zur #BlackLivesMatter-Demo hätte sein wollen. Die Rebellion der Träumer hingegen sparte sich das Thema ganz und sagte auch hinterher nichts dazu - was ehrlich gesagt ein perfektes Beispiel dafür ist, dass sich hier seiner Privilegien ganz offensichtlich keiner bewusst ist. Kurzer Realitycheck: Die Zeiten, in denen man sich enthalten konnte, sind vorbei. Vor allem als Kollektiv, dass sich Solidarität auf die Fahnen schreibt.

Wenn man also schon mittendrin ist, und es nicht hinkriegt, die eigenen Anliegen rücksichtsvoll, nachsichtig und verantwortungsbewusst zu äußern; wenn man es nicht hinkriegt, ein aktuelles und so einschneidendes Zeitgeschehen wie die aktuellen Unruhen in Amerika zu berücksichtigen, hätte man sich doch wenigstens jetzt, nach der Party-Demo klar positionieren können - oder sogar müssen.

Denn: Natürlich stimmen auch wir den Forderungen der Clubkultur-Demo voll und ganz zu. Clubkultur ist wichtig und Menschen, die an ihrem Erhalt arbeiten, müssen in den Corona-Rettungspaketen genauso respektiert und berücksichtigt werden, wie dies in anderen Branchen der Fall ist. Aber für alles gibt es angemessene Wege. Und diese sind nicht am Boden einer Bierflasche zu finden, während täglich Menschen aufgrund ihrer Herkunft um ihr Leben bangen müssen. Ja, das ist ein existenzielles Problem. Und ja, es wiegt schwerer als alles andere.

Musikkultur - wo kommt die eigentlich her?

Die Rebellion der Träumer fordert mit der Demo und in ihrem Facebook-Statement "Solidarität mit den Schwächsten in unserer Gesellschaft" und meint damit eigentlich hauptsächlich sich selbst. Das ist nicht nur traurig, sondern in extremem Maße ignorant. Unterdrückte Menschengruppen scheinen da aktuell jetzt nicht so wichtig. Dabei tanzen die Partyfreunde, die sich so furchtbar große Sorgen um ihre Kultur machen, auf Fundament, dass genau aus der Kultur kommt, die sie nicht beachten wollen.

Laura Aha, Journalistin aus Berlin und mittendrin in der Clubkultur der deutschen Hauptstadt, verurteilt die Akteure der Pfingst-Demo aufs Schärfste. Sie schreibt in ihrem Artikel für DJ-Lab: "Nein, es reicht nicht, kein Rassist zu sein. Es ist an der Zeit, dass weiße Menschen sich als Verbündete aktiv am antirassistischen Kampf beteiligen. Gerade, wenn sie so sehr von einer Kultur profitieren, die von Schwarzen Menschen geschaffen wurde, wie die Clubkultur."

Die Londoner DJ Kikelomo aus dem No-Shade-Kollektiv hat einen offenen Brief an die Musikindustrie verfasst, den Aha ebenfalls pointiert zitiert: "Die Musik, die die Grundlage für eine Multi-Milliarden-Dollar-Industrie darstellt, entstand als Zufluchtsort und Ausweg aus dem Leid, das direkt damit verbunden ist, Schwarz zu sein. Hip Hop, House, Techno, Dancehall, Jungle, Drum and Bass, Rock'n'Roll, Grime, Soul, Funk und eine Menge anderer Genres wurden von unterdrückten Schwarzen Menschen erfunden."

Berliner Technoszene: Nicht alle über einen Kamm scheren

Die Party zu Berliner Wasser wurde allseits und zu Recht kritisiert. Auch aus der Politik regten sich Stimmen: Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci zeigte sich entsetzt über die Demonstrierenden und sagte "Party und Pandemie passt überhaupt nicht."

Entsprechend wird diskutiert, inwiefern die Technoszene überhaupt selbstverantwortlich handeln könne und dass eine Öffnung der Clubs angesichts der aktuellen Lage einfach keine gute Idee sei. Dabei darf man aber nicht vergessen, dass nicht die ganze Szene am Pfingstsonntag auf Booten feierte.

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Die Berliner Clubcomission etwa kritisierte die Demo ebenfalls und distanzierte sich entschieden von den Veranstalter*innen. Gleichzeitig arbeiten viele Akteure der Clubszene seit Anfang der Corona-Pandemie für Möglichkeiten, selbiger zu helfen. Ganz ohne dabei lediglich sich selbst im Blick zu haben. Wir können nur hoffen, dass dies auch bei allen anderen demnächst durchsickert. Wer Nachhilfe braucht: Einfach mal dem Hashtag #BlackLivesMatter auf den sozialen Medien folgen. Wokeness ist keine Option mehr, sondern Pflicht.

Quelle: Noizz.de

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