Für die Behörden ist der Fall abgeschlossen. Doch der Oberpfälzer Erich Stenz glaubt inzwischen an eine große Verschwörung.
von Sebastian Heinrich, MZ
Frydlant. Da hinten liegt sie, die Weltsensation. Erich Stenz senkt den Kopf leicht nach vorne, bis sein blaues Baseball-Cap das dunkle Holz des Burgtors von Schloss Friedland berührt. Stenz kneift das linke Auge zusammen, mit dem rechten blickt er durch ein kleines Guckloch. Er sieht einen schmalen Weg, mit Steinen gepflastert. Hier müssen sie im Februar 1945 entlanggefahren sein, die Lkw der deutschen Wehrmacht, die gefüllt waren mit den Kisten.
So muss es gewesen sein, Stenz ist sich sicher: Oben, im Schlosshof, haben sie dann gehalten, Soldaten sind ausgestiegen, haben die Kisten ausgeladen, in den Keller geschleppt und eingemauert. Kisten, prall gefüllt mit Kunstschätzen. Kisten mit dem Inhalt des Bernsteinzimmers. Und jetzt, denkt Stenz, liegen diese Kisten hier, in den Kellern unter Schloss Friedland, im Norden Tschechiens. Und niemand darf davon erfahren. Stenz ist sich sicher: Es ist eine Verschwörung, die Welt darf nichts vom Bernsteinzimmer erfahren. Und sicher beobachten ihn die Tschechen auch heute wieder, an diesem sonnigen Apriltag, während er durch das Guckloch am Schlosstor schaut. Erich Stenz hebt seinen Kopf wieder. „Dann drückt er auf die Klingel neben dem Tor, auf der „Schlossverwaltung" steht. Er drückt kurz, wartet. Drückt lange, wartet. Niemand antwortet. Stenz dreht sich um und geht.
Zwei Wochen später, ein paar Dutzend Schritte entfernt, in der Schlossküche von Friedland. Jana Pavlikova zeigt durch ein Fenster, hinter dem der Schlosshof zu sehen ist. Pavlivkova ist Kastellanin, Schlossherrin von Friedland. Durch dieses Fenster, sagt sie, will die damalige Schlossköchin 1945 die Soldaten gesehen haben, die die Kisten voller Kunstschätze in den Keller trugen. Pavlikova sagt: „Hier sehen Sie doch gar keine Kellertreppe, das ist doch gar nicht möglich." Und dann blickt sie zu den Menschen, die um sie herum in der Küche stehen. Gut 20 Besucher stehen da, unter ihnen vier Journalisten, zwei halten Pavlikova Mikrofone vor das Gesicht, auf einem davon steht das Logo des Cesky Rozhlas, des tschechischen Pendants der ARD.
„Auf den Spuren des Bernsteinzimmers" heißt die Führung, die Pavlikova heute leitet. Für 80 Kronen, knapp drei Euro, erzählt die Kastellanin ihre Version der Bernsteinzimmer-Geschichte. Und laut dieser Version ist auf Schloss Friedland rein gar nichts versteckt. Kein Bernsteinzimmer, keine sonstigen verschwundenen Kunstschätze.
Erich Stenz' Besuch in Friedland, die Führung von Kastellanin Pavlikova: Zwei weitere Episoden der Geschichte um die Jagd der zwei Oberpfälzer Erich Stenz und Georg Mederer nach dem wohl meistgesuchten Kunstschatz der Welt, den die Nazis 1941 aus dem sowjetischen Leningrad raubten und das seit 1945 verschollen ist.
Seit Stenz 2007 Wind bekommen hat von der hochbetagten ehemaligen Köchin von Friedland und ihrer spektakulären Geschichte, jagt er das Bernsteinzimmer. Stenz, heute 69 Jahre alt, hat im Kalten Krieg für den bundesdeutschen Geheimdienst BND in Osteuropa „Informationen beschafft", wie er erzählt. Seit neun Jahren wähnt er sich dem Kunstschatz der Kunstschätze auf der Spur.
Stenz hat die Köchin besucht und mit ihr gesprochen. Sie hat ihm von den Militär-Lkw erzählt und von den Soldaten, die Kisten voller Kunstschätze in den Keller trugen. Stenz ist 2008 mit einem Geschäftspartner nach Friedland gereist, hat dort eine Mauer im Keller entdeckt, die ganz anders aussieht als das restliche Mauerwerk und sie fotografiert. Er hat über einen Anwalt den bayerischen Ministerpräsidenten kontaktiert, die Bundesregierung und das tschechische Kulturministerium. Alle Stationen seiner Suche hat Stenz protokolliert, in schriftlichen „Aktenvermerken" und „Berichten".
Jetzt steht Stenz hier, auf Schloss Friedland, an diesem sonnigen Tag im April 2016. Als Erich Stenz sich vom Schlosstor wegdreht, das ihm niemand öffnet, blickt er in eine Filmkamera. Sein Neffe Christian Blank ist mit ihm nach Friedland gereist. Blank ist PR-Manager, freier Journalist und Dokumentarfilmer - und dreht einen Beitrag über seinen Onkel und dessen Suche nach dem Bernsteinzimmer. „Die haben uns schon längst beobachtet", sagt Stenz in die Kamera. Er meint die Schlossverwaltung, vor allem Kastellanin Pavlikova. Neben Stenz und Dokufilmer Blank steht Elisabeth Bergmann. Bergmann blinzelt durch ihre Sonnenbrille in den wolkenlosen Frühlingshimmel. Vor 85 Jahren ist sie wenige hundert Meter von hier entfernt auf die Welt gekommen. Für Erich Stenz ist Bergmann eine weitere wichtige Zeitzeugin.
Stenz kennt Bergmanns Geschichte längst, für die Kamera erzählt Bergmann sie noch einmal: 1944, Friedland gehörte zum von Nazi-Deutschland kontrollierten Reichsgau Sudetenland, wurde die damalige Oberschülerin mit über 100 Mitschülern zum Einsatz auf Schloss Friedland beordert. Ihre Aufgabe: In einer Transportkette Kisten aus einem Militär-Lkw abzuladen und in den Schlosshof weiterzureichen. Kunstschätze aus dem Berliner Schloss, sei den Schülern damals gesagt worden. Laut Bergmann wurden also zum Ende der Nazi-Zeit sehr wohl Kunstschätze in Friedland gelagert. Sie hat Erich Stenz ein weiteres Puzzleteil geliefert für seine Suche nach dem Geheimnis von Schloss Friedland.
Ja, die Zeitzeuginnen. Kastellanin Pavlikova spricht auch darüber, zwei Wochen später, bei ihrer Führung. Zur Aussage der Köchin sagt sie, die „genau gleiche Legende" gebe es auch zum nordböhmischen Schloss Lemberk, eine ähnlich zum nahegelegenen Schloss Sychrov. In Sychrov habe man sogar gesucht und dabei Schäden am Schloss angerichtet. Und Elisabeth Bergmanns Geschichte von der Transportkette? Das könne schon sein, dass Kinder da mitgeholfen hätten. Und einen Schatz aus Berlin hätten die Nazis ja wirklich eingelagert auf Schloss Friedland. Nämlich Bücher aus einer Berliner Bibliothek. Und die habe man den Berlinern schon einen Monat nach Kriegsende zurückgegeben. „Das ist doch eine fabelhafte Sache", sagt Pavlikova. „Deutschland lag damals in Trümmern, und unser Staat gab den Berlinern diese Bücher zurück."
Bernsteinzimmerjäger Stenz kennt diese Geschichte. Für ihn ist sie eine Lüge, Teil der Verschwörung um das Bernsteinzimmer.
Im März 2015 hat er selbst auf Schloss Friedland nachgeforscht, dank einem Vertrag mit dem tschechischen Denkmalamt NPU. Mit seinem Freund Georg Mederer, der seit 2012 in die Bernsteinzimmer-Jagd eingeweiht ist, und einem Bauingenieur, stieg er in den Keller unter dem Schlossherrenflügel von Friedland. Der Bauingenieur erforschte die mysteriöse Mauer, die Stenz fotografiert hatte. Darüber, was dann geschah, gibt es zwei Versionen.
Stenz erzählt: Die Kastellanin war aufgekratzt, telefonierte während der Forschungen ständig am Handy - und wurde hysterisch, als die beiden Oberpfälzer in weiteren Räumen des Schlosses forschen wollten, die nicht im Vertrag mit dem NPU standen. „Die hat gefaucht", sagt Bernsteinzimmerjäger Erich Stenz.
Pavlikova erzählt: Die beiden deutschen Bernsteinzimmerjäger fanden unter dem Kastellanflügel nichts. Und als ihnen das klar geworden sei, seien sie wütend abgereist. „Sie haben sich nicht einmal verabschiedet, uns nicht einmal die Hand gegeben," sagt Kastellanin Jana Pavlikova.
Nach den Forschungen gibt es noch ein Treffen, im Jahr 2015, auf dem Schloss. Stenz und Mederer wollen weitere Forschungen anstellen - und die Pläne des ganzen Schlosses sehen. Das NPU gibt die Pläne nicht heraus - und verlangt, wie im Vertrag vereinbart, von Stenz und Mederer die Ergebnisse ihrer Nachforschungen. Die beiden Oberpfälzer geben ihre Ergebnisse nicht heraus. Seither herrscht Funkstille zwischen Stenz und Kastellanin Pavlikova. Und die Bernsteinzimmerjäger aus dem Landkreis Neumarkt schalten die Medien ein.
Im Februar 2016 erscheint der erste Artikel im überregionalen Teil unserer Zeitung. Dann berichten nationale Medien in Deutschland und Tschechien über die Bernsteinzimmer-Jagd. Und im März taucht auf der Website von Schloss Friedland die Einladung zur Führung „Auf den Spuren des Bernsteinzimmers" auf.
Stenz und Mederer sind nicht da, als Kastellanin Pavlikova Journalisten und Ausflügler durch Schloss und Burganlage führt. Die beiden hatten sich eigentlich angemeldet - einen Tag zuvor aber abgesagt. Pavlikova spricht viel über die beiden Deutschen, wegen derer sie diese Führung veranstaltet. Gestenreich, aber mit ruhiger Stimme, ohne erkennbare Gefühlsregung. Sie nennt sie „Amateure", die nichts von der Baugeschichte des Schlosses wüssten. „Es ist schwierig, mit ihnen umzugehen", sagt Pavlikova. „Sie glauben Dir nichts, aber Du sollst ihnen alles glauben." Dann führt sie die Besucher hinunter in den Keller, vor die seltsame Wand, hinter der Stenz und Mederer geheime Räume vermuten. Pavlikova sagt: „Dahinter ist nichts, nur noch eine kleine Grünfläche und dann der Burggraben".
Ein Interview mit unserer Zeitung hat Pavlikova diesmal abgelehnt. „Der Fall Bernsteinzimmer ist für uns abgeschlossen", schreibt sie in einer E-Mail.
Erich Stenz' letzte Instanz: der russische Präsident Putin
Für Erich Stenz ist nichts abgeschlossen. „Das ist eine ganz große Verschwörung" sagt er noch einmal, als er mit Mederer, Zeitzeugin Bergmann und seinem Neffen, Dokumentarfilmer Blank, in einer Drehpause zusammensitzt.
Stenz will weiter machen, noch mehr Druck aufbauen auf Kastellanin Pavlikova und das tschechische Denkmalamt NPU. Stenz sagt, er habe Informationen zugespielt bekommen über Verwicklungen von Pavlikovas Ehemann mit dem ehemaligen tschechoslowakischen Geheimdienst. Man habe ihm gesagt, die Kastellanin und ihr Mann führten ein Eigenleben in Friedland, seien isoliert, pflegten wenig Kontakt zu anderen Schlossverwaltern. Weil Stenz in einem übersetzten tschechischen Zeitungsbericht über die Bernsteinzimmer-Führung liest, dass die Kastellanin Pavlikova Stenz und Mederer „Paranoia" unterstellt und sie im Artikel „Fantasten" genannt werden, wittert er eine „gezielte Medienkampagne".
Mitte Mai, sagt Stenz, haben er und Mederer einen Termin im Kulturreferat der deutschen Botschaft in Prag. Und die Vertretungen von Polen und Israel in Berlin habe man kontaktiert - der Staat Polen und viele jüdische Familien vermissten ja schließlich noch NS-Raubkunst. Und dann ist da ja noch der russische Präsident.
Denn wenn das alles nichts nützt, wenn das Tor von Schloss Friedland trotzdem verschlossen bleibt für die Bernsteinzimmer-Jäger - dann, sagt Erich Stenz, „bleibt nur doch der Weg zu Herrn Putin. Bloß, dann rollen die Panzer da an. Das will ich auch nicht."
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