Jeden Morgen steigt eine 66-jährige Rheinbergerin auf ihr Fahrrad und sammelt den Müll auf, den andere achtlos in die Natur geworfen haben. Was sie sieht, das packt die Rentnerin ein. Warum macht sie das?
Marlis Stempel entscheidet sich wieder einmal gegen das Naheliegende. Sie könnte sich noch einmal im Bett umdrehen, stundenlang frühstücken oder zumindest darauf warten, dass die Temperatur steigt, bevor sie rausgeht.
Stempel ist 66 Jahre alt, Rentnerin. Sie wohnt allein. Sie hat Probleme mit den Knien. In der Wohnung läuft sie nur mit dem Stock. Außerdem hört sie schlecht. Auch das ist vermutlich keine Alterserscheinung, sondern eine Folge ihrer Krankheit, des Turner-Syndroms.
Den betroffenen Frauen fehlt eines der beiden X-Chromosome in allen oder einem Teil der Zellen. Menschen mit Turner-Syndrom werden auch nicht besonders groß, vielleicht 1,50 Meter. So auch Marlis Stempel. Aber auch an diesem Novembervormittag setzt sie sich auf ihr silbernes Rad und fährt los. Ihre Klingel ist mit Herzen bemalt.
Marlis Stempel gehört zu jenen Leuten, die selbst niemals auf die Idee kämen, dass sie etwas Besonderes tun. Sie hat nicht die Menschheit gerettet, nicht einmal einen Menschen. Aber ohne sie wäre ein kleiner Flecken Erde ein bisschen weniger grün. Deshalb ist sie heute wieder unterwegs.
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