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Das Trauma nach den K.O.-Tropfen

Als Sabrina G. am Morgen in ihrem Bett aufwacht, ist sie nackt. Ihr ist übel und schwindelig. Sie kann sich kaum bewegen, weil sich ihr Körper schwer anfühlt. Sie hat Schmerzen, die Haut brennt. Sie versucht, sich an die vergangene Nacht zu erinnern. Was ist passiert? Wie viel hat sie getrunken? Wie ist sie überhaupt nach Hause gekommen und wo ist ihre Freun- din, mit der sie gestern Abend zu einer Party loszog? „Ich wusste gar nichts mehr und ich war unglaublich schwach“, sagt die heute 36-Jährige. Vom Bett aus tastet sie auf dem Fußboden nach ihrem Handy und fasst in zwei benutzte Kondome. Angewi- dert zieht sie die Hand weg, setzt sich hin und findet ihr Handy daneben. Sie checkt ihr Telefon. Die letzten WhatsApp-Nach- richten, die sie erhalten hat, stammen von einer Nummer, die sie nicht kennt. Um kurz nach Mitternacht schrieb ihr jemand: „Komm raus“, kurz danach: „Wo bist du?“ Sie liest ihre Antwort darauf. „Das waren unentzifferbare Wörter. Aneinanderge- reihte Zeichen und Buchstaben, die über- haupt keinen Sinn ergaben. Ich dachte mir, so viel kann ich nicht getrunken haben, um so was zu schreiben.“ In ihrem Kopf rattern jetzt viele Fragen. Zu wem gehört die Tele- fonnummer? Wieso kann sie sich an gar nichts mehr erinnern?

Sieben Jahre später sitzt Sabrina G. in einem Wiener Kaffeehaus und berichtet von der Nacht im September, an die sie sich kaum erinnern kann, die aber bis heute ihr Leben beeinflusst. Damals versuchte sie, Stück für Stück die Stunden in ihrem Leben zu rekonstruieren, die ihr immer noch wie ein schwarzes Loch vorkommen. Damals lebte die Wienerin in der Schweiz. Gemeinsam mit einer Freundin hatte sie eine berühmte Party im Berner Kursaal be- sucht. Ganz in Weiß gekleidet tanzten Hunderte Gäste zu pulsierenden Beats. Sabrina G. erinnert sich noch daran, wie sie ihrer Freundin und sich zwei Wodka Lemon an der Bar bestellte. Sie erinnert sich auch, wie der Kellner ihr mitteilte, dass sie nur mit Bargeld bezahlen durfte, und sie feststellte, dass sie kaum noch wel- ches hatte. Sie weiß noch, dass die beiden Frauen mit Burschen plauderten, die sie zuvor auf dem Weg zur Party im Bus ken- nengelernt hatten. Die jungen Männer schienen nett zu sein. „Wir konnten uns kaum unterhalten, weil es so laut war, und deshalb standen wir sehr eng beieinander.“ Die Wienerin erinnert sich, dass ihr plötz- lich schwindelig wurde, dann übel. Von dem, was danach passierte, weiß Sabina G. nur, was die Polizei für sie ermittelte. Erinnern kann sie sich bis heute nicht mehr. Sie vermutet, dass ihr jemand K.-o.- Tropfen in den Drink gemischt hat.


Die Fälle von Frauen, die den Verdacht haben, mit K.-o.-Tropfen betäubt worden zu sein, und die anschließend vergewaltigt wurden, steigen in Österreich seit Jahren. Das Bundeskriminalamt verzeichnete im Jahr 2021 mehr als 100 Opfer, die eine Betäubung zur Anzeige brachten, im Jahr 2017 lag diese Zahl bei 94 Opfern. Auch die Beratungsstellen dokumentieren mehr Anfragen zu K.-o.-Mitteln. Allein beim 24-Stunden-Frauennotruf der Stadt Wien meldeten sich im vergangenen Jahr bis November 60 Betroffene, die einen ähnlichen Verdacht hatten. Im Jahr davor ver- zeichnete die Beratungsstelle 40 Fälle, 2020 waren es 20. „Es schaut vielleicht im- mer noch nach einer relativ kleinen Zahl aus, aber die Dunkelziffer ist enorm hoch“, sagt Heidemarie Kargl.

Das liege vor allem daran, dass sich die Opfer schämen würden, weil sie falsche Schuldgefühle plagten und weil sie sich manchmal aufgrund der Erinnerungs- lücken unsicher seien. Einige hätten auch Angst vor einer Täter-Opfer-Umkehr, weil sie vielleicht freiwillig in die Wohnung des Täters mitgegangen sind. Diese Frauen würden befürchten, dass ihnen niemand den Übergriff glaubt. Von den 60 Betroffenen, die sich allein im vergangenen Jahr beim Frauennotruf meldeten, hätte höchstens ein Drittel anschließend eine Anzeige bei der Polizei erstattet.

Heidemarie Kargl leitet den Frauennot- ruf der Stadt Wien, der seit November eine große Informationskampagne zu K.-o.- Tropfen durchführt. Vor allem nach den Jahren der Pandemie, in denen sich das Partygeschehen ins Private verlagerte und zum Teil auch dort blieb, wolle man jetzt wieder auf das Thema aufmerksam ma- chen. Denn passieren könne es überall, nicht nur im Club, in der Disco oder der Bar.


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Die Fälle in Österreich häufen sich, in denen Frauen erst betäubt und anschließend vergewaltigt werden. Die meisten Opfer zeigen das aber nie an. News sprach mit einer Betroffenen

Von Saskia Wolfesberger

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Fotos: Getty Images, Ricardo Herrgott

GESELLSCHAFT

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Ist eh alles O.K.?

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Nichts ist O.K.

bei K.O.-Tropfen!

Alle Infos unter:
• wien.gv.at/gewaltschutz
• 24h-Frauennotruf 01/71 71 9 • Bei Gefahr: Polizei 133

Hinschauen. Handeln. Helfen. wien.gv.at/gewaltschutz

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auch Euphorie oder Enthemmung sein. „Aber das hat nichts mehr mit der Frau zu tun, sondern ist die Wirkung des Mittels.“ Heidemarie Kargl ist sich sicher, dass da- hinter häufig Frauenhass steckt. Es gäbe nicht den typischen K.-o.-Mittel-Verge- waltiger, es könne sogar ein Bekannter sein. Das seien Männer, die kein Interesse daran hätten, mit Frauen auf Augenhöhe ihre Absichten auszuhandeln. Laut Bundeskriminalamt suchen sich die zu- meist männlichen Täter K.-o.-Mittel-Re- zepte im Internet oder würden die Tropfen gleich illegal über das Darknet beziehen. Häufig seien es jedoch selbst zusammen- gepanschte Mittel, deren Grundsubstan- zen frei im Handel gekauft werden könn- ten, um sie anschließend missbräuchlich zu verwenden.

Laborkosten werden übernommen

Sabrina G. traf sich am Tag nach der Tat mit ihrer Freundin in der Berner Innen- stadt. Gemeinsam versuchten die Freun- dinnen, zu rekonstruieren, was in der Nacht vorgefallen war. „Auch sie konnte sich an kaum noch etwas erinnern und wusste auch nicht, wie sie nach Hause kam. Wir waren uns zu diesem Zeitpunkt sicher, dass uns etwas ins Glas gemischt wurde.“ Noch während des Treffens erhielt Sabrina G. eine WhatsApp-Nachricht von der Nummer, die sie nicht zuordnen konn- te und von der sie in der Nacht bereits Nachrichten erhalten hatte. „Nimm die Pil- le danach, zur Sicherheit.“ Sabrina G. sei geschockt gewesen. Die Frauen suchten die nächste Polizeiinspektion auf. Erst während der Einvernahme dort wurde Sabrina G. bewusst, dass sie möglicherwei- se vergewaltigt worden war. „Ich habe das die ganze Zeit nicht glauben können, weil ich mich ja nicht erinnern konnte. Es war völlig unreal für mich, wie ein schlechter Film.“ Die Polizei sicherte ihr Handy, die Kondome unter ihrem Bett und ihr weißes Kleid, das sie am Abend auf der Party ge- tragen hatte, um Spuren und Daten zu si- chern. Anschließend untersuchte sie eine Gynäkologin und stellte ringförmige Hä- matome fest. Sabrina G. schluckte die Pille danach und ließ einen HIV-Test machen. Auf K.-o.-Tropfen wurde sie nie getestet. Die Polizisten hätten ihr damals gesagt, dass es für einen Nachweis zu spät sei.

Heidemarie Kargl rät Frauen, die mit dem Verdacht aufgewacht sind, betäubt und vergewaltigt worden zu sein, direkt beim 24-Stunden-Frauennotruf anzurufen und ihre Befürchtungen zu schildern. „Wir empfehlen meist, so rasch wie möglich ins

KAMPAGNE. Weil die Opferzahlen steigen, macht die Stadt Wien aktuell auf das Thema mit einer großangelegten Bewusstseins- kampagne aufmerksam

Krankenhaus zu gehen. Wir legen uns nicht darauf fest, wann es zu spät ist für einen Test“, sagt Kargl. In öffentlichen Spi- tälern in Österreich werden die Laborkos- ten bei Verdacht auf K.-o.-Mittel von eini- gen Krankenhäusern selbst übernommen. „Das machen wir, um die Patientinnen bei der Verarbeitung des Geschehenen zu unterstützen und weil die Auswertungen wichtig für die Beweismittellage für etwa- ige gerichtliche Verfahren sind“, sagt Karin Fehringer vom AKH Wien. Die betäubende Substanz GHB, die für Gamma-Hydroxy- buttersäure steht und umgangssprachlich als Liquid Ecstasy bekannt ist, sei sechs Stunden nach Verabreichung im Blut nach- weisbar, im Harn noch zwölf Stunden da- nach. Andere Substanzen, die zum Beispiel in Benzodiazepinen enthalten sind, könn- ten oftmals länger nachgewiesen werden. Deshalb sei der Standard im Universitäts- klinikum AKH Wien so definiert, dass noch bis zu drei Tage nach der Verabreichung Blut und Harn gesichert würden.

Notrufnummern einspeichern

Die Kampagne des 24-Stunden-Frauennot- rufs und der Stadt Wien informiert auch über Schutzmaßnahmen. Die Tipps rei- chen von „Lass deine Getränke nie unbe- aufsichtigt stehen“ zu „Nimm keine

offenen Getränke von fremden Personen an“. Heidemarie Kargl betont aber, dass die Verantwortung immer beim Täter liege. Diese Männer würden die kriminelle Ener- gie aufbringen, sich das Mittel zu besor- gen, um es einer Frau, wo auch immer, ins Glas zu mischen. „So einen Mann wird man mit einer Kampagne kaum von sei- nem Vorhaben abbringen können“, sagt Heidemarie Kargl.

Die Polizei rät Frauen vor allem dazu, sich frühzeitig damit auseinanderzuset- zen, im Notfall die Polizei oder die Rettung zu rufen. Notrufnummern sollten sogar ins Handy eingespeichert werden, weil sich Betroffene in Stresssituationen viel- leicht nicht mehr erinnern können. „Man soll sich nicht davor scheuen, sofort Hilfe zu holen, wenn einem von einer auf die andere Sekunde schlecht wird“, sagt Franziska Tkavc. Sie ist stellvertretende Fachbereichsleiterin für die Gruppe Kin- derschutz und verantwortlich für Frauen- sicherheit im Landeskriminalamt. Die Scham der Frauen führe häufig dazu, erst mal nichts zu unternehmen. Aber die Wir- kung der Tropfen setze nach etwa 15 Mi- nuten ein. Deshalb sei schnelles Handeln besonders wichtig. „Wenn man sich schon im Vorhinein mit etwaigen Vorkommnis- sen mit K.-o.-Tropfen auseinandersetzt, wird es im Notfall eher funktionieren, dass man um Hilfe bittet, indem man z. B. den Kellner ersucht, die Rettung zu alarmieren.“

Weil Sabrina G. nie auf K.-o.-Mittel ge- testet wurde, hatte sie dafür keine Bewei- se. Die Schweizer Polizei ermittelte trotz- dem den mutmaßlichen Täter. Der gab an, dass er nach der Party mit Sabrina G. nach Hause fuhr und dort mit ihr einvernehm- lichen Geschlechtsverkehr hatte. Damit stand Aussage gegen Aussage. Im Jänner 2020 wurde das Verfahren eingestellt. „Das war für mich fast genauso schlimm wie die Tat an sich“, sagt Sabrina. G. Lange Zeit litt sie unter Depressionen, konnte sich auf keinen Mann einlassen. Das hat sich mitt- lerweile geändert. „Irgendwann habe ich mir gedacht, dass der Typ nicht länger mein Leben kontrollieren darf.“ Seitdem spricht sie auf ihrem Instagram-Kanal über ihre Erfahrungen und versucht, anderen Betroffenen Mut zu machen.

In Wien gibt es eine Selbsthilfegruppe, die sich an Mädchen und Frauen richtet, die unter Einfluss von Drogen, Alkohol und K.-o.-Tropfen Opfer eines sexuellen Übergriffs wurden und unter den Folgen leiden: und.trotzdem.staark@gmail.com