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Reportage

Der Kampf ihres Lebens

Mit einem Großaufgebot der Polizei, mehreren Baggern und Baumfällmaschinen hat die Stadt Wien am vorvergangenen Dienstag ein Protestcamp der Lobau-bleibt-Bewegung im
22. Wiener Gemeindebezirk geräumt. Lassen sich die Umweltaktivisten so leicht vertreiben?

Wien hat eine stürmische Nacht erlebt. Auf dem Parkareal hinter den Friedhofsmauern der katholischen Kapelle Hirschstetten stehen ein paar Dutzend bunte Zelte und trotzen dem Wind. In der Mitte steht ein großes, wie man es von Festen kennt. Die weiße Plane zum Eingang flattert auf und ab. Im Inneren stehen Bierbänke und vollgeräumte Tische. Tulpen verwelken in einer Vase, eine Thermoskanne thront in der Mitte, daneben eine Flasche Olivenöl. Auf den anderen Tischen lagern Körbe voller Gewand und Plastikkisten mit Geschirr. Eine davon liegt auf dem Boden, das Porzellan ist zerbrochen. Seit Ende August campieren in diesem legalen Basislager Klimaaktivisten, die gegen den Bau des Lobautunnels und die geplante Stadtautobahn kämpfen. News besuchte sie in den vergangenen Monaten immer wieder. Wir wollten erfahren: Wer sind die Menschen, die gegen den Bau des Lobautunnels und die Stadtstraße protestieren? Lassen sie sich vom Gegenwind der Stadt Wien vertreiben?

An diesem Morgen haben sich Vertreter dreier unterschiedlicher Umweltorganisationen in einem Basislager eingefunden. Die Sprecherin der Lobau bleibt Bewegung, Lucia Steinwender, die Schülerin Clara Pories und der Aktivist Paul, der lieber anonym bleiben möchte und sich des- halb anders nennt. Von Wind und Wetter haben sie sich in den vergangenen Monaten nicht unterkriegen lassen. Aber die Stadt Wien hat sie erst einmal von einer Baustelle vertrieben.
Lucia Steinwender hockt auf dem Bo- den und kehrt die Scherben zusammen. Sie trägt eine schwarze Daunenjacke, schwarze Jeans, Schal und Handschuhe.

Vor vier Jahren wurde sie in der Öffentlichkeit als die „Kurz-Crasherin“ bekannt: Im Mai 2018 sprang sie auf die Bühne und unterbrach Sebastian Kurz bei seiner Er- öffnungsrede des Austrian World Summit. Der damalige Bundeskanzler war so überrascht, dass er sie vor Gästen wie Arnold Schwarzenegger oder Alexander Van der Bellen seine Umweltpolitik kritisieren ließ. „Damals haben wir die Aktion zu viert geplant und durchgezogen. Heute sind wir Tausende, die für eine klimafreundliche Politik kämpfen“, sagt Lucia Steinwender.
Clara Pories ist 16 Jahre alt. Sie trägt eine bunte Wollhaube und eine Allwetterjacke. Die Schülerin hat die Nacht hier draußen geschlafen. „Nass war es nicht, aber kalt“, sagt sie. Sie reibt sich die Hände und versucht, sie mit ihrem Atem zu wärmen. Als Greta Thunberg, die Ikone der Klimaschutzbewegung, am 20. August 2018 zum ersten Mal vor dem schwedischen Parlament protestierte, war Clara Pories 13 Jahre. Sie begann damals, auf Palmöl zu verzichten, nur noch selten Fleisch zu essen. Sie vermied Plastik. „Ich habe irgendwann gemerkt, dass es um mehr geht. Und dass man auf politischer Ebene etwas erreichen kann“, sagt sie.
Paul ist der Älteste in der Runde. Der 36-Jährige trägt einen verwaschenen Anorak, auf dem bunte Farbkleckse leuchten wie bei einem Maler. Zwei dünne Schals hat er sich locker um den Hals gebunden. Aus seinen Schuhen lugen Plastiksackerl hervor. „Damit die Füße trocken bleiben“, sagt er. Mit 20 anderen Aktivisten blockierte er in der Früh bereits den Verteiler- kreis in Wien-Favoriten, um auf die zunehmende Bodenversiegelung im Wiener Stadtgebiet aufmerksam zu machen. „Heute bin ich knapp einer Verhaftung entkommen, aber das wird sich wohl bald ändern“, sagt er und lacht.

Der Ort des Basiscamps, in dem Lucia Steinwender und die anderen an diesem Morgen aufräumen, ist strategisch gewählt. Hier soll die vierspurige Stadtstraße gebaut werden. Die 3,2 Kilometer lange Straße soll im Jahr 2025 die Seestadt Aspern mit der Südosttangente verbinden. Sie soll den Verkehr bündeln und damit die Wohngebiete entlasten. So der Plan der Stadt Wien. Eigentlich sollte dafür auch ein Tunnel unter dem Nationalpark Lobau gegraben wer- den. Doch der ist seit Dezember erst einmal vom Tisch: Umweltministerin Leonore Gewessler hatte das Aus verkündet. Das allerdings reicht den Umweltaktivisten nicht.
Sie fordern den sofortigen Baustopp der Stadtstraße und das Streichen der Pläne für den Bau des Lobautunnels. Stattdessen wollen sie den Ausbau der öffentlichen Verkehrsmittel und mehr Radwege. Aus diesem Grund haben sie im vergangenen Sommer dieses Basiscamp errichtet und zusätzlich zwei Baustellen besetzt.
Eine von ihnen, die sogenannte Wüste bei der Hausfeldstraße in Wien-Donaustadt, hat die Exekutive am vorvergangenen Dienstag geräumt. Unzählige bewaffnete Beamte mit Helmen, das Sondereinsatzkommando der Wega, Bagger und Baumfällmaschinen rollten für die Stadt Wien an, um klare Verhältnisse zu schaffen. Doch sehr weit kam der Polizeitross zunächst nicht. In einer von Umweltschützern selbst gebauten Pyramide hatten sich mehrere Aktivisten angekettet. Gitter wurden aufgestellt, öffentliche Verkehrsmittel rund um die Baustelle zeitweilig unterbrochen, um weiteren Sympathisanten den Protest auf der Baustelle zu erschweren. Das hielt sie nicht ab. Bis Mittag strömten Hunderte Menschen auf das Gelände. „Ihr seid nicht allein“, riefen sie den Aktivisten durch die Baugitter zu.

Lucia Steinwender stand mitten in der Menschenmenge und gab ein Interview nach dem nächsten. Sie telefonierte mit Journalisten und tippte Pressemitteilungen für die Social-Media-Dienste in ihr Handy. Sie hätte an diesem Tag auch für ihr Studium der Internationalen Entwicklung lernen können oder Geld bei ihrem Job in einem Forschungsinstitut verdienen, aber all das schmiss sie an diesem Tag, wie so häufig in den vergangenen Monaten.
Die 23-Jährige ist in den Arbeiterbezirken Ottakring und Hernals aufgewachsen, alleine bei ihrer Mutter. Die arbeitete bis vor der Coronapandemie Teilzeit als selbstständige Logopädin, aber weil das Geschäft für freiberufliche Gesundheitsdienstleister seither schlecht läuft, schulte sie zur Corona-Testerin um. Der Ausblick auf die geringe Pension der Mutter beschäftigt Lucia Steinwender schon lange. „Ich habe früh ein Gespür für Ungerechtigkeit entwickelt“, sagt sie. Als im September 2015 Zehntausende Flüchtlinge auf dem Wiener Westbahnhof ankamen, begrüßte Lucia Steinwender die Menschen mit Trinkflaschen und Esspaketen. Sie engagierte sich fortan bei Amnesty International und in einem Zentrum für jugendliche Geflüchtete. Zwei Jahre später wechselte sie zur Gruppe System Change, not Climate Change. „Ich habe damals angefangen, die Klimakrise als eine der größten Ungerechtigkeiten überhaupt zu empfinden. Diejenigen, die am wenigsten dazu beige- tragen haben, leiden am meisten.“
Frustriert war sie bei der Räumung nicht, sagt sie. „Seit ich mich für die Klimabewegung einsetze, habe ich es noch nie erlebt, dass sich so spontan und so entschlossen so viele Menschen gezeigt haben.“ Sie erzählt von dem Vater eines Aktivisten, der im Hintergrund die Bewegung unterstützt. „Den habe ich plötzlich auf einem Bagger sitzen gesehen.“ Das alles
habe ihr gezeigt, dass sich die Bewegung nicht mehr aufhalten lassen wird.

Am Tag, als die Hundertschaften der Polizei anrollten, war Clara Pories wegen ihrer dritten Corona-Impfung außer Gefecht. Für sie sei es frustrierend gewesen, weil sie gewusst habe, dass ihre Freunde sie an diesem Tag gebraucht hätten. „Aber man muss sich dazu zwingen, auch für sich selbst zu sorgen. Wenn man das nicht tut, dann kann man auch nicht für das Klima sorgen“, sagt Clara Pories. Seit zwei Jahren plant die 16-Jährige für Fridays for Future Aktionen, organisiert Demos oder malt einfach Plakate. „Der Großteil meines Engagements besteht nicht daraus, auf der Straße zu stehen, in ein Megafon zu brüllen oder eine Rede zu halten. Die meiste Zeit verbringe ich in Videokonferenzen, wo Dinge geplant und Vorgehensweisen besprochen werden“, sagt Clara Pories.
Zum ersten Mal traf News Clara Pories im vergangenen Oktober. Damals saß die 16-Jährige beim Basiscamp an einem Infostand unter einer Plane. Ein Ort, den die Aktivisten eingerichtet hatten, um Passanten und Anwohner informieren zu können. Um sie herum standen viele bunte Zelte, Aktivisten kletterten auf Bäume, schnitten Gemüse an Bierzelttischen, sortierten gespendete Kleidung. Manche Spaziergänger mit Hund schauten von fern, andere kamen näher, manche fragten sogar, ob sie helfen könnten.

Clara Pories kontrollierte damals von jedem Interessierten die 3G-Nachweise, sie wies auf das Rauchverbot hin und auf die strikte Mülltrennung. Erst danach sprach sie über die Stadtstraße und den Lobautunnel. Als dann die Interessierten weg waren, vertiefte sich Clara Pories wieder in ihre Mathebücher und übte für eine anstehende Schularbeit. Sie sagt, dass Aktionismus kräftezehrend sei. Häufig beginnt ihr Tag damit, ein paar Dutzend E-Mails im Namen des Klimas zu beantworten, bevor sie in die Schule geht. Viel Platz für andere Freunde bleibt nicht. Warum sie sich das antut? Clara Pories will langfristig etwas bewegen, sagt sie.

Es gehe nicht nur um einzelne Aktionen, sondern, klar, um das große Ganze. „Alleine ist es ziemlich schwer, laut zu werden. Aber wenn man Menschen hat, die mit einem das machen, dann hilft das, mehr zu bewirken. Das ist unglaublich motivierend.“


Seit Mitte September verbrachte Paul unzählige Nächte im Basiscamp und auf der jetzt geräumten Baustelle. Er schlief in Zelten, später half er dabei, die Pyramide im besetzten Camp aufzubauen. Nachts bewachte er das Gelände und diskutierte mit Passanten, philosophierte über Bürgerinnenräte und die Würde der Menschen. Von Wut hielt er damals überhaupt nichts. Man solle die Probleme nur Aufzeigen, war sei- ne Devise. Er spricht lange Sätze, verliert sich dabei und beginnt nochmals. Der 36-Jährige scheint immer auf der Suche nach dem Sinn des Lebens zu sein. Er ist gelernter Mechatroniker, hat eine Ausbildung zum Heilmasseur, zum Kunsttherapeuten und zum Lebenscouch absolviert. Geld verdient er damit nicht. Seine Familie, das erzählt Paul selbst, meint, dass er doch so viel gelernt habe und ob er daraus nicht etwas machen wolle. Aber Paul findet, er macht etwas daraus. „Jetzt kann ich meine Fähigkeiten an der richtigen Stelle einbringen“, sagt er.
Seit 2019 ist er Mitglied bei Extinction Rebellion. Die Bewegung, die in Großbritannien gegründet wurde, ist zu einem globalen Netzwerk angewachsen. Im Gegensatz zur Klimaschutzbewegung Fridays for Future, die Massen für größtmögliche Demos zu mobilisieren versucht, will Extinction Rebellion vor allem mit gewalt- freien Störaktionen im Alltag wachrütteln. „Wir gewinnen mit jeder Aktion, die wir setzten, in jedem Fall“, sagt Paul. „Wenn wir verhaftet werden, bekommen wir mediale Aufmerksamkeit für ein Thema, und wenn wir nicht verhaftet werden, können wir uns umso mehr erlauben.“
Als die Polizei vor fast zwei Wochen die besetzte Baustelle räumte, stand Paul am Bauzaun und sah zu, wie die Bagger seine selbst gebaute Pyramide zerschlugen. „Jetzt bin ich wütend“, sagte er an diesem Morgen. Er sei nie wegen der Stadtstraße oder des Tunnels auf der Baustelle gewesen. Es sei ihm um ein Kräftegleichgewicht gegen die Politik und die Wirtschaft gegangen. Aber die hätten die Forderungen der Lobau-Bewegung einfach ignoriert. Seit Montag ist er deshalb Mitglied bei „Last Generation“, einer neu gegründeten Splittergruppe von Extinction Rebellion. „Die sollen etwas mehr Pfeffer haben“, sagt er. Was das genau bedeutet, weiß Paul selbst noch nicht.

Im Basislager hat Lucia Steinwender das zerschlagene Porzellan aufgekehrt. „Ich finde das heuchlerisch. In der Schule und im Studium wird uns beigebracht, was für schlimme Dinge in der Geschichte passiert sind, weil Menschen nichts dagegen ge- macht haben“, sagt sie. „Aber wenn wir für klimafreundliche Lösungen einstehen, bekommen wir Klagsandrohungen.“

Tatsächlich hatte die Stadt Wien die Drohung zumindest gegen zwei minder- jährige Unterstützerinnen des Lobau-Protestcamps zurückgezogen. In den Anwalts- schreiben hatte die Stadt die Klimaaktivisten aufgefordert, die Camps in der Donaustadt sofort zu räumen, andernfalls würden rechtliche Schritte eingeleitet und die „entstandenen Schäden“ in Millionen- höhe von den Betreibern eingefordert. Lucia Steinwender hatte selbst so ein Schreiben bekommen, und sie berichtet, dass noch einer weiteren Minderjährigen eine Klagsandrohung der Stadt Wien zugestellt und bisher nicht zurückgenommen wurde. Aus dem Büro von Stadträtin Ulli Sima heißt es auf Nachfrage: „Im aktuellen Fall, den wir nun zwei Monate später via News erfahren haben, hat der Anwalt das Schreiben umgehend zurückgezogen.“
Lucia Steinwender muss sich jetzt beeilen, Journalisten aus der Schweiz warten vor dem Zelt und wollen mit ihr ein Interview führen. Clara Pories wird ihren ersten freien Tag der Semesterferien im Camp verbringen und die nächste Aktion planen. Paul fährt erst einmal nach Hause.
Der Sturm hat sich gelegt, die Wolken haben sich vorerst verzogen.