Sie warfen sich auf Bahngleise am Bahnhof im ungarischen Bicske. Umringt von Polizisten und Fotografen. Das Bild, das dabei entstand, ging um die Welt. Familie Bakkar aus Aleppo. Geflüchtet vor Fassbomben eines mörderischen Regimes und skrupellosen Terroristen. Auf dem Weg nach Deutschland. Die schwangere Mutter Samia, Vater Mohamed und ihr kleiner Sohn Husam klammerten sich aneinander fest. Verzweifelt, mit dem Wissen, dass die Journalisten das Geschehen aufnehmen würden. Familie Bakkar wollte sagen: "Schaut her, Welt. Wir gehen nicht zurück nach Syrien. Eher sterben wir hier zusammen."
Ein Jahr später versucht der kleine Husam, einen Fußball über das hohe Gras zu kicken. Sein Vater sitzt unter einer Birke auf dem Gartenstuhl. "German Cristiano Ronaldo", ruft Mohamed Bakkar. Es ist ein Sonntag Ende August, Kaffeezeit in Deutschland. Auf dem Grill, den der Vater bewacht, braten Hühnerflügel und Lammspieße. Die warme Sommersonne scheint auf die Gärten hinter den Reihenhäusern in Mayen, einer 18.000-Einwohner-Stadt in Rheinland-Pfalz. Der 25-jährige Familienvater hat zugenommen. Über seinem Bauch spannt ein weißes T-Shirt mit der Aufschrift "Keep on Track" ("Bleib in der Spur"). Er ist immer noch ein bulliger Typ, aber sein Blick ist weicher geworden im Vergleich zum vergangenen Jahr. Er sitzt in sich zusammengesunken. Die breiten Schultern hängen herunter.
Der Ball rollt Mohamed Bakkar vor die Füße. Nur mit Mühe schießt er ihn seinem Sohn zurück. Sein linkes Bein ist eingegipst. Der ehemalige Polizist kann sich zurzeit nur mit Krücken bewegen, weil sein Bein operiert werden musste. Die Verletzung stammt von einem Motorradunfall in Syrien. Dort wurde zwar die offene Wunde behandelt, der Trümmerbruch aber nicht gerichtet. Deshalb ist Bakkar damit bis nach Deutschland gehumpelt. Die deutschen Ärzte haben ihm gesagt, dass die Schmerzen irgendwann verschwinden werden, aber völlig normal gehen wird er nicht mehr können.
Samia Al Shogri kommt mit einem Baby auf dem Arm aus dem Mehrfamilienhaus. Ein Gebäude, dessen weißer Putz längst grau vom Regen ist. Sie geht vorbei an den Mistkübeln. Zwei Tonnen für Papiermüll, zwei für Restmüll, zwei für Biomüll. Die gelben Säcke stapeln sich dahinter. Samia Al Shogri trägt Make-up, Mascara, ein bisschen Rouge. Sie überreicht ihrem Mann das Baby und zupft kurz ihr Kopftuch zurecht. Die kleine Tochter ist im Februar geboren. Sie haben sie Schām genannt; die arabische Abkürzung für Damaskus, die Hauptstadt Syriens. Bei süßem Kaffee erzählt Samia Al Shogri, wie es ihnen im vergangenen Jahr in Deutschland ergangen ist. Im Gegensatz zu ihrem Mann spricht die 29-Jährige mittlerweile gebrochen Deutsch. "Alle Deutschen nett zu uns. Alles gut für uns. Alles schön in Deutschland." Es hört sich ein wenig so an, als habe sie die Sätze auswendig gelernt.
Nachdem die Familie im vergangenen Jahr in einer Flüchtlingsunterkunft im bayrischen Wiesau angekommen ist, musste sie dort vier Wochen ausharren. Dann ging es weiter in eine Sammelunterkunft in Rheinland-Pfalz, und wieder Wochen später brachte sie ein Bus mit 100 anderen Flüchtlingen an Bord nach Mayen, ganz im Westen von Deutschland. Hübsch restaurierte Fachwerkhäuser, ein barockes Rathaus und die Genovevaburg aus dem 13. Jahrhundert gehören hier zu den Sehenswürdigkeiten.
Mitarbeiter des Sozialamts empfingen die Flüchtlinge und teilten die Menschen bereitgestellten Wohnungen zu; finanziert von der Stadt. Für Familie Bakkar war das Ende einer langen Reise etwa 70 Quadratmeter groß. Küche, Bad, Schlaf-und Wohnzimmer. Bis auf ein Bett war ihr neues Zuhause leer. Doch noch am selben Tag klopfte es bei den Bakkars an der Wohnungstür.
Monika und Walter Richter, 65 und 63, sind pensionierte Gymnasiallehrer. Er unterrichtete Mathematik und Physik, sie Biologie und Chemie. Die Ferien nutzte das Ehepaar oft für Fernreisen: Nepal, Russland, Südamerika, Israel. Sie haben fast die ganze Welt gesehen. Jetzt sitzen sie im Garten der Familie Bakkar und warten darauf, dass die Lammspieße fertig braten. In dem Bericht möchte das Ehepaar mit einem geänderten Namen vorkommen. Sie seien schließlich nur ein Beispiel für viele andere, die sich um Flüchtlingsfamilien kümmern.
Monika Richter, burschikoser Typ, schnappt sich die kleine Schām, schaukelt sie auf ihrem Arm und lässt das Baby an Mohameds großem Zeh ziehen, der aus dem Gips hervorlugt. Mohamed Bakkar lacht und versucht, sein Bein wegzuziehen. "Nein, nein! Das ist nicht so schlimm wie Rauchen", sagt Monika Richter sehr langsam und deutlich und fügt etwas schneller erklärend hinzu: "Er darf nämlich nicht rauchen. Das haben ihm die Ärzte verboten, aber er tut es trotzdem."
Das Ehepaar Richter kümmert sich um die syrische Familie, seit diese in Mayen angekommen ist. "Wir haben sie gleich am ersten Tag besucht und sind mit ihnen durch die Wohnung gegangen, um herauszufinden, was die Familie wohl am nötigsten brauchen könnte", erzählt Frau Richter. Erst wollten die Bakkars nichts annehmen. "Sie meinten, sie hätten alles. Nur ganz zaghaft fragten sie nach einer Zitronenpresse. Das war für sie in der leeren Wohnung das Wichtigste." Monika Richter schüttelt verständnislos den Kopf. Familie Richter besorgte eine Zitronenpresse. Sie half ihnen, Möbel zu organisieren, zeigte ihnen, wo sie Lebensmittel kaufen können und wo der Arzt seine Praxis hat.
Als im vergangenen Sommer die ersten Flüchtlinge Mayen erreichten, halfen vor allem soziale Vereine. Mit der Zeit schlossen sie sich zusammen und gründeten ein Netzwerk. Jede Flüchtlingsfamilie sollte eine deutsche Familie als Unterstützung bekommen. Das war die Idee. Mittlerweile leben mehr als 400 Flüchtlinge in der Stadt, bisher erhielt jede Familie deutsche Unterstützung und eine eigene Wohnung. Darauf war Mayen stolz. Doch wie lange das so noch funktioniert, wenn noch mehr Flüchtlinge kommen, wissen die Richters nicht. "Am Anfang sollte es ja nur eine Hilfe zu Selbsthilfe für die ersten Wochen sein", sagt Walter Richter.
Die Richters merkten schnell, dass das nicht reicht. Es vergeht keine Woche, in der sie nicht mindestens zweimal bei den Bakkars vorbeischauen, und wenn sie nicht bei ihnen sind, dann recherchieren sie im Internet nach Asylvorgängen, Kostenerstattungen und Deutschkursen. "Es ist ein Vollzeitjob, aber es füllt auch die Leere in der Rente", sagt Richter. Im Gegensatz zu seiner Frau will er jedoch keine Freundschaft aufbauen. Er betrachtet seine Rolle als Helfer und Wegweiser. Lehrer eben.
"Es sind sehr viele Kleinigkeiten, die das Leben für die Flüchtlinge schwierig machen", sagt Monika Richter. "Da ist das Problem mit den Kindersachen. Weil die Deutschen, im Gegensatz zu den Flüchtlingen, nicht mehr so viele Kinder haben, hat das einzige Babygeschäft in Mayen längst dichtgemacht. Mit dieser Kinderflut konnte ja niemand rechnen." Der nächste Laden ist 25 Kilometer entfernt und sei so umständlich öffentlich zu erreichen, dass Eltern dafür eigentlich ein Auto bräuchten. "Ohne Hilfe ist das schwer zu bewältigen", erzählt Frau Richter. "Wobei mein Mann immer sagt, dass sie es ja auch aus Syrien hierher geschafft haben."
Als im Winter die Heizung bei den Bakkars ausfiel, riefen sie "Mama Monika", wie sie die ehemalige Lehrerin nennen, um Hilfe. Die versuchte erst jemanden von der Stadtverwaltung ans Telefon zu bekommen, weil die Stadt schließlich der Mieter ist. Doch das gelang nicht, es war schon Freitagnachmittag. Danach versuchte sie, den Vermieter zu erreichen. Ebenfalls erfolglos. Schließlich bezahlte sie den Installateur selbst. Der brauchte aber nicht lange, denn in der Therme war nur das Feuer erloschen. "Das Geld habe ich mir später von der Stadt zurückgeholt, aber es sind eben die Kleinigkeiten, die Arbeit machen und bei denen die Familie Hilfe braucht. Das hört nicht einfach so auf", sagt Monika Richter.
Auch Deutschlands Vorzeigethema, die Mülltrennung, überfordert die Bakkars und andere Flüchtlingsfamilien. Alle zwei bis drei Wochen wird der Müll abgeholt. Entweder Papier-, Bio-oder Restmüll oder eben die gelben Säcke. Für jede Form von Müll ein anderes Datum. "Die Termine vergessen sie oft und dann quellen die Tonnen hinterm Haus über. Einige Familien schmeißen den Müll auch in den Garten, da hatten wir schon Ärger mit den Nachbarn", sagt Monika Richter.
Etwas, das den Richters jedoch wirklich Sorgen bereitet, ist der Tagesablauf der Bakkars und die Rollenverteilung. "Meist schlafen sie bis mittags. Dann gehen sie vielleicht etwas zu essen einkaufen, und anschließend sind sie wieder in der Wohnung. Die Kinder kommen nur selten raus", erzählen sie. Denn Samia Al Shogri geht ohne ihren Mann nicht gerne aus dem Haus, und weil er zurzeit nicht gehen kann, bleiben alle zu Hause. "Ich habe mit Mohamed darüber gesprochen, weil ich angenommen hatte, dass er es ihr verbietet, aber er hat seine Frau bestärkt, rauszugehen. Sie ist diejenige, die nicht will", erzählt Frau Richter. Sie und ihr Mann glauben, dass der Druck eher von zu Hause und auch von anderen Flüchtlingen kommt.
Die Familie der Bakkars, die zum Teil auch in Deutschland, in der Türkei und noch in Syrien ist, meldet sich mehrmals täglich per Skype. Die Flüchtlinge treffen sich untereinander fast täglich. "Alle passen aufeinander auf, und das nicht nur im guten Sinn", sagt Monika Richter. "Eine syrische Nachbarin, die am Anfang nie ein Kopftuch trug, geht jetzt nicht mehr ohne Bedeckung aus dem Haus. Da läuft doch was falsch!"
Einen echten Deutschkurs hat Familie Bakkar bisher auch nicht gemacht, weil Mohamed Bakkar meinte, dass er dafür, solange er keinen Asylbescheid in den Händen hält, keinen Kopf habe. Samia Al Shogri hatte zumindest mehrmals Privatunterricht bei einer deutschen Studentin, die zu ihnen nach Hause kam. Aber Samia hat sie mehrfach versetzt, und dann hatte die Studentin keine Lust mehr.
Das alles soll sich aber spätestens Ende August ändern. Dann haben die Bakkars ihren Interviewtermin beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF). Sehr wahrscheinlich wird die Familie nur subsidiären Schutz bekommen. Das ist der Fall, wenn ihnen in der Heimat keine individuelle Verfolgung droht, aber durch allgemeines Kriegsgeschehen ein "ernsthafter Schaden" widerfahren könnte -zum Beispiel durch eine Bombenexplosion oder durch den Einzug in die Armee. Der Schutztitel für subsidiär Schutzbedürftige ist vorerst auf ein Jahr befristet. Nach einem Jahr, so der Gedanke dahinter, soll geprüft werden, ob die allgemeine Sicherheitssituation in der Heimat immer noch so schlecht ist.
Sobald Familie Bakkar ihren Bescheid vom Bundesamt bekommt, wird sie einen Kurs besuchen müssen. Der besteht aus einem Sprach-und einem Orientierungsteil. Verweigert sie das, kann sie mit Strafen belegt werden oder weniger Geld vom Amt bekommen. Dieses System hält das Ehepaar Richter für richtig: "Es ist zumindest ein Anreiz, dass sie aus ihrem depressiven Trott rauskommen."
Mittlerweile sitzen beide Familien am reichlich gedeckten Tisch. Das Essen duftet vielversprechend. Monika Richter stochert in einer gelben Creme herum. "Was ist denn das?" Samia Al Shogri erklärt: "Hummus. Arabische Spezialität." Die Pensionistin probiert und stellt fest: "Lecker." Für Familie Richter ist Familie Bakkar ein Gewinn, andersherum sowieso. "Es ist aussichtslos, diese Flüchtlinge zu Deutschen machen zu wollen. Das wird nie funktionieren", sagt Walter Richter, "aber wir haben Hoffnung, dass wir uns gegenseitig annähern können."