Sarah Stein

Head of Search Experience, SWR, Mainz

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Unerfüllter Kinderwunsch: „Ich bin eine von euch"

Fast jedes zehnte Paar in Deutschland ist ungewollt kinderlos. Viele suchen medizinische Hilfe. Doch nur wenige reden darüber, weil es ein Tabu ist. Doch es bricht auf. Und das ist ein Zeichen an alle.

Vor ein paar Wochen - in einer jener dieser viel zu langen Corona-Wochen im März (oder war es schon April?) kündigte Jessie Weiss, eine der bekanntesten deutschen Mode-Influencerinnen, einen bemerkenswerten Live-Talk zum Thema Kinderwunsch und künstliche Befruchtung auf IGTV (Instagram-TV) an. Sie wolle über ihren Weg zu ihren Wunschkindern offen reden und dabei auf die Fragen ihrer Followerinnen eingehen.

Der Talk dauerte eine Stunde. Dabei saß die Anfang 30-Jährige auf ihrem Sofa in ihrer renovierten Berliner Altbauwohnung. Sie streamte live aus ihrer sonst gefilterten Welt, von der man ja immer nur einen Ausschnitt sieht - das, was sie zu senden bereit ist. Und jetzt das: Sie sprach darüber, dass sie damals als Ende 20-Jährige ohne medizinische Hilfe niemals Mutter geworden wäre, weil sie keinen Eisprung hatte. Es gab viele Fragen ihrer Follower*innen und viel Applaus für ihre Offenheit. Und viel Dankbarkeit für den Mut, den sie anderen Frauen damit macht. Interessant ist der Aspekt ihres jungen Alters, weil Kinderwunschbehandlungen meist mit älteren Frauen jenseits der 35 in Zusammenhang gebracht werden. Dann, wenn es schwerer wird, Kinder auf natürlichem Wege zu bekommen.

Ich bin eine von euch

Ein Stream einer Influencerin, der tausende Frauen folgen, mit einer wichtigen Botschaft: „Ich bin eine von euch".

Von euch: Das sind viele. Jedes zehnte Paar in Deutschland zwischen 29 und 59 Jahren wünscht sich laut einer Studie des Familienministeriums Kinder, kann aber aus medizinischen Gründen keine bekommen. Die Hälfte von ihnen sucht Hilfe bei einer Kinderwunschbehandlung. Fast drei Prozent aller lebend geborenen Kinder des Jahres 2017 wurden nach einer Befruchtung außerhalb des Körpers geboren. „In jeder Schulklasse sitzt mindestens ein Kind, welches sein Leben einer künstlichen Befruchtung verdankt", heißt es im aktuellen IVF-Register, dem nationalen Register für künstliche Befruchtungen. Man sagt nicht mehr Retortenbabys, man spricht von Wunschkindern.

So wie Jessie Weiss das auch sagt. Und sie ist nicht die einzige Frau, die in der Öffentlichkeit steht und mit diesem Tabu bricht und immer mehr Frauen damit Mut macht, den manchmal harten Weg zum Wunschkind zu gehen. So erzählt beispielsweise auch die freie Journalistin, Autorin und Bloggerin Alexa von Heyden offen über ihren Weg. Und hier auf ihrem Blog.

Und auch in der internationalen Blogger- und Influencer-Szene ist das Thema längst präsent. Leandra Mc Cohen, Gründerin eines der erfolgreichsten internationalen Fashion- und Livestyle-Blogs, The Man Repeller, erzählt immer wieder, auf welchem nicht einfachen Weg mit verschiedenen Fehlgeburten letztendlich dann doch ihre ihre Zwillinge entstanden sind: mit Hilfe einer künstliche Befruchtung. Und wie glücklich sie jetzt ist!

Und als Michelle Obama ihre Autobiografie Becoming veröffentlichte, erzählte sie darin, wie sie und Barack Obama verzweifelt versuchten, Eltern zu werden.

Erfahrungsberichte sind wichtig

Warum das wichtig ist, dass es immer mehr Frauen und auch Männer gibt, die von ihrem Weg zum Wunschkind erzählen? 72 Prozent der Frauen und Männer mit unerfülltem Kinderwunsch vermissen Erfahrungsberichte von jenen, die eine reproduktionsmedizinische Behandlung genutzt haben - sei sie erfolgreich gewesen oder nicht. So steht es in der Studie des Bundesfamilienministeriums.

Erfahrungsberichte helfen dabei, dass sich Betroffene nicht so allein fühlen. Dass sie früher Hilfe suchen, zu einer Zeit im Leben, in der es noch mehr Aussicht gibt auf ein glückliches Ende. Denn auch bei der künstlichen Befruchtung nehmen die Erfolgsaussichten mit zunehmendem Alter ab.

Und apropos Mann: Bleibt der Kinderwunsch unerfüllt, steht oft das Leid der Frau im Mittelpunkt - doch wer kümmert sich um die Männer, die ebenfalls leiden?

Das gesellschaftliche Problem ist: Da, wo vor allem die Frauen nicht unabhängig sind, wie erfolgreiche Bloggerinnen, Influencerinnen, Schauspielerinnen oder eben Michelle Obama, da, wo ihre Authentizität und Offenheit für sie keine Währung darstellt, um Follower*innen bei der Stange zu halten, oder um neue Werbe-Partner an Land zu ziehen, ist das Thema unerfüllter Kinderwunsch für Frauen (und auch Männer) nach wie vor ein Tabu. Wer möchte schon gerne seinem Chef von der reproduktionsmedizinischen Behandlung erzählen? Und davon, wie belastend das alles ist?

Notwendige Reform des Embryonenschutzgesetzes

So verrückt es klingt: Genau da müssen wir aber hin! Erst dann, wenn die betroffenen Frauen und Männer über ihren Weg zum Kinderwunschzentrum reden, können sie die Politik ändern.

Gesetze, die vorschreiben, wer Kinder haben darf, zu welchen Konditionen, und wer nicht. In Deutschland beeinflusst das Embryonenschutzgesetz die Kinderwunschbehandlung, von dem nicht nur Reproduktionsmediziner sagen, dass es dringend reformiert werden muss. Tatsächlich gehen die derzeit in Deutschland erlaubten reproduktionsmedizinischen Maßnahmen auf ein 30 Jahre (!) altes Gesetz zurück. Weil das Embryonenschutzgesetz aus dem Jahr 1990 vieles von dem verbietet, was heute technisch möglich ist (und in anderen Ländern längst angeboten wird), zieht es viele Paare mit Kinderwunsch in ausländische Kliniken. Dort werden gespendete Eizellen eingesetzt, Leihmütter gefunden und aus mehreren Embryonen jenes mit den besten Chancen auf eine Schwangerschaft ausgewählt.

Experten empfehlen nun unter anderem, die Selektion des Embryos mit den besten Entwicklungschancen zu erlauben, um Mehrlingsschwangerschaften zu vermeiden. Bislang werden Frauen in Deutschland oft zwei oder drei Embryonen übertragen, in der Hoffnung, dass sich zumindest einer davon entwickelt. Das macht Mehrlingsschwangerschaften wahrscheinlicher, und somit auch Gesundheitsrisiken für Mutter und Kind. Derzeit liegt die Zwillingsrate bei Schwangerschaften nach einer künstlichen Befruchtungen in Deutschland bei etwa 20 Prozent. In anderen Ländern ist die Quote weit niedriger.

Und das Stichwort: Samenspende: Die ist in Deutschland erlaubt, wohingegen die Eizellenspende verboten ist. Deshalb suchen jährlich tausende Frauen im Ausland Hilfe, nämlich in den Ländern, in denen es erlaubt ist, Eizellen zu kaufen und mit dem Sperma des Lebenspartners zu befruchten. Man spricht tatsächlich auch von einem regelrechten Kinderwunsch-Tourismus, ein Bereich, der immer mehr boomt. Denn je länger der Kinderwunsch wegen beispielsweise langer Ausbildungszeiten nach hinten geschoben wird, desto älter sind die Frauen, wenn sie sich mit dem Thema Kinderwunsch beschäftigen.

Michelle Obama wollte mit ihrem Bekenntnis anderen Frauen Mut machen, über Fehlgeburten und Unfruchtbarkeit zu sprechen. Ihr ging es aber auch um die Frage, wer die Kosten für die künstliche Befruchtung übernimmt. Auch das ist in Deutschland wie auch in den USA ein viel diskutiertes Thema. Die gesetzlichen Krankenkassen zahlen nur bei heterosexuellen und verheirateten Paaren und auch da nur anteilig - und mit 40 Jahren bei Frauen ist Schluss. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Frauen noch genügend Eizellenreserven haben und somit mit medizinischer Unterstützung eigene Kinder bekommen könnten.

Wir müssen reden

Unerfüllter Kinderwunsch und künstliche Befruchtung - eines der letzten großen Tabus? Möglich. Wenn nicht endlich eine vorbehaltlose gesellschaftliche Debatte geführt wird, werden „normale Frauen und Männer", die eben nicht unabhängig und ungefiltert über ihre Kinderwunsch-Behandlungen sprechen können, weiterhin schweigen.

Viele Frauen haben jüngst Petitionen zur Tamponsteuer unterschrieben und dadurch Gesetzesänderungen bewirken können! Das Argument, dass sich Frauen nicht ausgesucht haben, zu menstruieren, war stichhaltig genug, um unfaire Besteuerungen und damit eine ungleiche Behandlung von Frauen zu beseitigen.

Dass Kinderwunschbehandlungen von gesetzlichen Krankenversicherungen nur bis zu einem Alter von 40 Jahren bei Frauen bezahlt werden, ist letztlich auch eine willkürliche Grenze, die gezogen wurde. Da wird nicht auf die individuelle Eizellenreserve geschaut. Dabei weiß man längst, dass Frauen jenseits der 35 auch viel mehr Versuche benötigen, um schwanger zu werden. Deshalb reichen auch die drei von der Krankenkasse bewilligten nicht aus. Andere Länder sind weiter. In Belgien werden für ältere Frauen auch mehr Versuche bezahlt.

Über all das muss diskutiert werden. Öffentlich! Männer und Frauen. Junge und alte. Ja, das sind auch krasse Themen: Wie steht man zur Eizellenspende? Warum tabuisieren wir noch immer die Leihmutterschaft, wo wir wissen, dass tausende Paare im Ausland Hilfe suchen?

Wir sollten als Gesellschaft das Thema gemeinsam aufarbeiten. Diskutieren und vor allem: den Betroffenen zuhören!

Vielleicht streamen dann bald nicht nur Influencerinnen, sondern auch ganz normale Frauen und Männern aus ihren Wohnzimmern und berichten über ihre Kinderwunschbehandlungen. Über ihren Weg. Über Erfolge, Misserfolge. Darüber, dass es dann doch geklappt oder auch, dass es nie geklappt hat.

Die Message, die jede einzelne verbreitet, lautet: „Ich bin eine von euch."

Mehr Halt kann es gar nicht geben.

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