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Jazz- und Modern-Jugendweltmeister: Mit Vollgas gegen den Strom

Christian Weiß: Das ist der Doppel-Jugendwelt- und Europameister im Jazz- und Moderndance

Erfolgreicher hätte das Jahr 2021 für Christian Weiß kaum laufen können: Zum sechsten Mal in Folge ließ der 15-Jährige bei der Deutschen JMC-Meisterschaft bei den jugendlichen Solisten alle Konkurrenten hinter sich, Titel Nummer zwei folgte mit der Smallgroup „Sunshine“. Bei den Europameisterschaften nahm er jeweils bei den Jazz- und Modern-Solisten die Goldmedaille entgegen und setzte sich zu guter Letzt die dazu passenden WM-Kronen auf. Höchste Zeit also das Ausnahmetalent aus dem nordrhein-westfälischen Dinslaken einmal vorzustellen.

Hätte jemand Anfang 2021 prophezeit, dass Christian am Ende des Jahres an seiner Zimmerwand Platz für sechs neue Goldmedaillen schaffen muss, der Nachwuchs-Tänzer vom 1. Voerder TSC hätte vermutlich ungläubig den Kopf geschüttelt.
„Das war für mich schon eine Überraschung. International lag ich bisher zwar nicht unbedingt ganz hinten, aber so weit vorne eben auch nicht. Es war wirklich ein schönes Gefühl“,
erinnert er sich mit einem breiten Lächeln auf den Lippen an die wohl rasantesten drei Monate seiner Karriere zurück.

Strikte Regularien und unerwartete Hindernisse

Oktober 2021, Dinslaken. Gut eineinhalb Jahre nach ihrem Ausbruch mischt die Coronapandemie die Tanzsportgemeinschaft noch immer gehörig auf, wirbelt unberechenbar alle Terminkalender durcheinander und zieht regelmäßig unschöne Schneisen durch die Emotionswelten der Sportler*innen und Funktionäre. Christian Weiß ist wenig begeistert, als die International Dance Organisation (IDO) nach langem Hin und Her verkündet, dass die Europameisterschaften im Ballet, Jazz und Modern/Contemporary in der nordmazedonischen Hauptstadt Skopje abgesagt sind. Stattdessen sollen die Wettkämpfe online ausgetragen werden und die Teilnehmer*innen Videos aufzeichnen und einschicken.

Für Christian eine ganz schwierige Kiste.

„Online-Wettkämpfe gehören zu den Dingen, die ich während der Coronazeit am meisten verflucht habe“,

sagt er mit einem entnervten Augenrollen. Zum einen machen ihm die strikten Vorgaben, die die IDO zunächst ausruft, zu schaffen. Und das nicht nur, weil sie aufgrund des zähen Informationsflusses nur ganze zwei Tage vor Abgabeschluss endlich bei ihm durchsickern.

Die Regularien, die der Verband später noch etwas lockern wird, weil sie vielleicht doch ein wenig zu restriktiv sind, besagen beispielsweise, dass keine anderen Personen auf den Aufnahmen zu sehen sein dürfen. Bereits existierende Turniervideos sind damit vom Tisch und neue Filmaufnahmen stehen auf dem Programm, ebenso wie die nicht ganz einfache Suche nach passenden und kurzfristig verfügbaren Räumlichkeiten. Aber selbst nachdem diese endlich gefunden sind, wartet noch so manches andere unerwartete Hindernis.

„Einmal war zum Beispiel ein Spiegel im Hintergrund, das haben wir beim Dreh gar nicht bemerkt. Dadurch hat man mich die ganze Zeit doppelt gesehen, was beim Zuschauen natürlich extrem verwirrt hat“,

plaudert Christian aus dem Nähkästchen. Die Folge: Unzählige Versuche, jede Menge unbrauchbares Material und ganz viel Verzweiflung.


Wenn das Adrenalin ausbleibt

Denn auch die nicht vorhandene Wettkampfatmosphäre setzt Christian ziemlich zu.

„Bei normalen Turnieren hast du nur diese eine Chance, diesen einen Moment, auf den es ankommt. Das bringt genau den Adrenalinschub, den ich brauche, um richtig Gas zu geben und noch eine Schüppe draufzulegen.“

Eine Kamera und der schier unbegrenzte Platz auf der Speicherkarte beflügeln ihn hingegen nicht gerade zu Höchstleistungen.

„Ich wusste ja immer, dass es nicht so schlimm ist, wenn ich jetzt nicht perfekt bin, weil wir ja einfach einen weiteren Take hätten aufzeichnen können. Das hat dazu geführt, dass ich vom Kopf her irgendwie nicht richtig dabei war.“

Die Abwesenheit von Publikum und Wertungsgericht stellt eine weitere Spaßbremse dar. Mama Manuela weiß, warum:

„Christian agiert während seiner Auftritte mit den Zuschauern. Wenn er merkt, dass beispielsweise die Wertungsrichter auf ein Augenzwinkern reagieren, kann er nochmal eins oben drauf setzen. Solche Momente sind nicht einstudiert, sie entstehen spontan.“

Und gehen auf den Videos für die Europameisterschaft verloren.

„Egal wie viele Wiederholungen wir gemacht haben, ich hatte zu diesem Zeitpunkt nie das Gefühl, dass es gut genug war“,

gibt Christian zu.

Sein Eindruck täuscht. Trotz aller Widrigkeiten und dem immer öfter aufkeimenden Gedanken, doch noch alles hinzuschmeißen, schickt Christian seine Videos ab. Und gewinnt. Zweimal.

„Am Anfang habe ich mir selbst eingeredet, dass dieser Erfolg ja eigentlich nicht richtig zählt, weil es kein echtes Turnier gab und das Feeling auch gar nicht da war.“

Doch mit ein wenig zeitlichem Abstand, ändert sich seine Meinung.

„Im Nachhinein war ich schon stolz auf mich, denn eigentlich habe ich ein ziemlich gutes Video hingelegt. Und zwei EM-Titel kann ja auch nicht unbedingt jeder vorweisen.“

Langsam keimt in dem jungen Tänzer, der nicht selten dazu neigt sein eigener schärfster Kritiker zu sein, die Hoffnung, dass in diesem Jahr noch weitere Erfolge auf ihn warten könnten. Wenn er dranbleibt.


Ganzer Text im "Tanzspiegel"-Magazin (Ausgabe 05/2022)