Wer klettert, ist auch gerne mal erfinderisch. Nicht nur, wenn es um den nächsten Zug in der projektierten Route oder im neu entdeckten Boulderproblem geht. Schon vor über hundert Jahren führte die große Entfernung zu den Alpen und der Mangel an Klettermöglichkeiten vor der Haustür dazu, dass im Wald von Fontainebleau der Weg für eine völlig neue Kletterdisziplin geebnet wurde. Anfangs - aufgrund der geringen Höhe der Boulderprobleme - oft nicht ernst genommen, hat sich das Bouldern inzwischen zu einer wichtigen Wettkampfdisziplin entwickelt, reine Boulderhallen sprießen wie aus dem Nichts aus dem Erdboden und das Bouldern steht kurz davor, zu einer neuen Trendsportart heranzuwachsen.
Doch was, wenn Boulderern in den Großstädten in Deutschland, Österreich und der Schweiz auch die Bouldergebiete wie Fontainebleau, Hueco Tanks oder Arco zu weit entfernt sind und die Halle vor allem bei frühlingshaften Temperaturen auch nicht gerade zu den Lieblingsorten zählt? Dann sucht man sich die Probleme eben vor der eigenen Haustür. Und das ist vielversprechender als es im ersten Moment klingt.
Wie zum Beispiel eine Gruppe Boulderer in Wien, die schon seit mehreren Jahren die Stadt für sich erobert haben und seit 2009 auf ihrer Webseite www.urban-boulder.com die verschiedensten „Urban Boulder"-Spots vorstellen. In dieser Zeit haben sie sich an den Wänden, Brücken, Pfeilern und anderen Gebäuden über 200 Bewegungsabläufe ausgedacht und alles genau festgehalten und dokumentiert, sodass die Webseite vielen in Buchform erschienenen Topos in nichts nachsteht. Dabei spielt auch immer eine ganze Menge Pioniergeist und Abenteuerlust mit, sagt Philipp Stromer, der für die Gruppe die Webseite pflegt und die Boulder-Spots seiner Stadt kennt wie kein anderer.
Und mit der Suche aufhören, will er noch lange nicht. Das Boulder-Highlight der Stadt ist bereits seit den 80er-Jahren die am Donaukanal gelegene Flexwand mit über 30 verschiedenen Boulderproblemen in den Schwierigkeitsgraden zwischen Fb 3b und 6c. Mit einem ordentlichen Rutschfaktor, denn die Wand, so beeindruckend sie mit ihrer Graffity-Kunst auch aussehen mag, ist durch zig Schichten Sprühlack ordentlich rutschig. Wer keine Lust hat, sich alle Beschreibungen für die Flexwand auszudrucken, kann sich hierfür sogar einen eigenen Topo in Spielkartenform kaufen, der 2011 in Zusammenarbeit mit Salewa entstanden und online oder in Wiener Sport- und Klettergeschäften erhältlich ist. Darin werden alle bis dato definierten Probleme beschrieben - Traversen, Highballs, Dynos, sodass für jeden ein potentieller Lieblingsboulder dabei ist.
Lebensgefühl statt Klischee-RegelbruchDas Klischee dahinter: Alain Robert. Kaum taucht das Thema Fassadenklettern in Presse- oder Fernsehberichten auf, wird der inzwischen 51-jährige Franzose mit Pseudonym „Spiderman" als Vorreiter angeführt, der regelmäßig in Nacht-und-Nebel-Aktionen ungesichert berühmte Gebäude beklettert: den Eiffelturm, das Empire State Building das Frankfurter Skyper-Hochhaus. Zuletzt, ausnahmsweise mit Sicherung, den 828 Meter hohen Burj Khalifa-Turm in Dubai. Allerdings folgen auf dieserlei Aktionen regelmäßig Festnahmen, die logischerweise den illegalen Ruf des Builderns fördern.
Einen Ruf, der zu Unrecht am Buildern haftet und den die Buildering-Szene immer und immer wieder von sich zu weisen versucht. Denn Stellen wie die Wiener Flexwand sind tatsächlich Orte, an denen weder Gebäude noch Passanten gefährdet werden und das Urban Bouldern einfach nur Spaß, Lebensfreude und eine besondere Sportmöglichkeit mitten in der Stadt bedeutet. Damit ist Alain Robert in der Buildering-Szene genauso ein Vorreiter wie Alex Honnold und seine Free-Solo-Aktionen im Bereich Freeclimbing: Ihre Aktionen sind gekonnt, nervenaufreibend und wahnsinnig spektakulär - aber eben nichts zum Nachmachen.
Inzwischen hat sich das Buildern, Urban Bouldern oder auch gesichert Urban Climbing genannt in einigen Städten zu einer kleinen Trendsportart entwickelt, die immer mehr Kletterer und Boulderer ausbauen und in ihre eigenen Städte weitertragen. Fragt man nach dem Reiz daran, lautet die Antwort meist so oder so ähnlich: Buildern verbindet das Gefühl des draußen Kletterns an echtem Stein mit der Nähe der Boulderhallen vor Ort, die jedoch gerade nach Feierabend oft zum Bersten voll sind. Und so ist es Teil eines Lebensgefühls, nach der Arbeit wenn das Wetter es zulässt, schnell die Klettersachen zu packen, in die Stadt zu fahren und sich mit Freunden zu treffen, um gemeinsam die letzten Sonnenstrahlen des Abends mit dem Lieblingssport zu genießen: an den Isar-Brücken in München, der Westwand am Henry Ford Bau in Berlin, der Flexwand in Wien, der Wallbrücke in Göttingen, am Rheinufer in Mainz oder an der Mainkai-Wand in Frankfurt am Main. Spots fast überall in Deutschland finden sich im Internet, unter anderem über die Seite www.buildering-spots.de.
Dass das Buildern etwas ganz anderes ist, merkt man spätestens dann, wenn man selbst mit seiner ganzen Ausrüstung, inklusive Crashpad, in den öffentlichen Verkehrsmitteln sitzt oder durch die Straßen läuft und einen von allen Seiten neugierige Blicke streifen. Auch an der Wand angekommen, wird man natürlich öfter von Passanten angesprochen: „Was macht ihr da? Sieht ja witzig aus. Ist das erlaubt?" Diese Frage ist übrigens ziemlich schwierig zu beantworten, denn das Bouldern wird an einigen Stellen durchaus geduldet aber eben nicht an allen. Grundsätzlich gilt, dass man gerade an Gebäuden in Privatbesitz beim Eigentümer um Erlaubnis fragen muss. Ist er nicht einverstanden, wird nicht gebouldert. Oft lassen aber auch Leute mit sich reden und stimmen unter bestimmten Bedingungen zu. Dazu kann natürlich gehören, dass niemand gestört wird, die Fassade nicht verschmutzt und beschädigt wird und selbstverständlich niemand außer dem Boulderer selbst für mögliche Verletzungen haftet. Letzteres muss natürlich jedem Kletterer klar sein, egal wo und wie er klettert und ist daher die Grundvoraussetzung. Im öffentlichen Bereich ist es vor allem wichtig, dass keine Passanten oder Denkmäler gefährdet werden. Ist auf einem Gebäude Denkmalschutz sollte man ohne vorherige Absprache mit dem Träger die Finger davon lassen.
Flussstädte sind prädestiniertEin Beispiel für einen Träger, der sich schon vor fast 20 Jahren auf das Abenteuer Buildern eingelassen hat ist die Stadt Köln, die 1997 mit der ortsansässigen DAV-Sektion einen Vertrag zur Nutzung der Hohenzollernbrücke als Kletteranlage abgeschlossen hat. Seither ist die Brücke nicht nur als Sehenswürdigkeit, sondern auch als eines der Highlights der Kölner Kletterszene überregional bekannt. Die Steinmauer an der Brücke bietet für Kletterer, die sich beim DAV Köln in eine Liste eingetragen haben und damit bestätigen, die Regeln zu kennen und zu beachten, über 70 Routen vom 4. bis zum 8. Schwierigkeitsgrad (UIAA), die mit eigens eingerichteten Topropes beklettert werden können. Vorstiegsrouten gibt es keine, da das historische Bauwerk verständlicherweise nicht durch Bohrhaken verschandelt werden soll. Einmal im Monat werden die Haken, an denen die Karabiner für die Seile angebracht werden, überprüft, sodass weder Kletterer noch Passanten gefährdet werden. Zweimal im Jahr begleitet ein Verantwortlicher der Stadt die Überprüfung. Köln ist damit eine der Städte, die Builderern in Deutschland positiv gegenübersteht, was alles andere als selbstverständlich ist. Auch Heidi Wagenbach-Mattar, die vom DAV für die Kletteranlage an der Brücke zuständig ist, weiß, dass die Stadt Köln mit der Anlage ein ganz besonderes Highlight für die Kletterszene geschaffen hat: „Ich habe verschiedentlich Anfragen von anderen Städten, wie wir es geschafft haben, eine solch wunderbare Kletterlocation zu bekommen. Offenbar ist das in anderen Städten nicht so einfach. Dass so etwas in Köln möglich ist, hängt wohl auch mit der Kölschen Lebensart und Großzügigkeit zusammen."
Womöglich hat es auch etwas mit dem närrisch fröhlichen Gemüt der Einheimischen zu tun, denn eine weitere Karnevalshochburg mit sehr aktiver Buildering-Szene ist die Region um Mainz und Wiesbaden, wozu bereits 2008 ein erster Buildering-Führer erschienen ist. Inzwischen wurde der Topo überarbeitet und steht auf http://herkules.jimdo.com zum kostenlosen Download zur Verfügung. Im Vorwort seines Kletterführers für die beiden Landeshauptstädte äußert Autor Tim Jacobs den Verdacht, dass auch die günstige Flusslage bei der Eignung zum Buildering eine Rolle spielt: „Städte, die an einem Fluss liegen, pflegen eine große Anzahl an Brücken zu haben. Diese lassen sich gut zum Klettern nutzen. Genauso wie die Tallage von Flussstädten. Die anliegenden Anhöhen und Berge bieten meist eine gute Möglichkeit, an Mauern oder sogar an Naturfels zu klettern." Die beiden Städte bieten eine breite Auswahl an Granit, Sandstein, Kalk und auch Eisenstrukturen, die beklettert und zum Teil kombiniert werden können. Aber auch hier gilt, dass jeder selbst auf seine eigene und die Sicherheit von Passanten achten muss.
Crashpad nicht (immer) notwendigZu jeder etablierten Sportart gehört natürlich auch eine Wettkampfkultur, die sich vor allem in den südlichen Lagen schon entwickelt hat. Auf der italienischen Webseite www.streetbouldercontest.com werden Wettkampftermine seit 2003 für zahlreiche Orte in Nord-Italien koordiniert, wo das Street Bouldering schon große Popularität erlangt hat. Den Höhepunkt der italienischen Wettkampfkultur gab es 2011 mit zehn Wettkämpfen in Städten von Piemont, der Lombardei und Ligurien, 2013 wurden immerhin sechs Wettkämpfe gezählt, unter anderem in Städten wie Sondrio, Genua, Turin und Mailand. Dabei kommen neben Wandstrukturen auch Vordächer, Torbögen, Abflussrohre, Fenster und Türen zum Einsatz. Den Veranstaltern scheinen die Ideen nicht auszugehen.
Genauso wenig wie den Urban Boulderern in Wien, die im letzten Jahr neben einem selbst gedrehten 30-Minuten-Film mit den Kletter-Highlights der Stadt auch noch ein Wettkampf-Highlight ausrichten konnten. Beim Urban Waters Cup, bei dem ausnahmsweise mal keine Crashpads benötigt wurden, brauchten die Teilnehmer neben ihren Kletterschuhen vor allem eines: Badesachen. Als Weiterentwicklung des 2011 gestarteten Urban Boulder Cup, lag der Hauptspot 2013 unter der Reichsbrücke auf der Donauinsel - mitten im Wasser. Die Teilnehmer wurden mit Tretbooten zu den Deep Water Soloing-Problemen am fast zehn Meter hohen Brückenpfeiler chauffiert, wo sie sich zuerst im Klettern, dann im mutigen Abspringen und schließlich im Schwimmen beweisen mussten. Für Teilnehmer und Zuschauer ein Riesenspaß bei blauem Himmel und bestem Badewetter.
Die Entscheidung, ob das Klettern und Bouldern in der Stadt den Sport am richtigen Felsen ersetzen oder zumindest ergänzen kann, ist jedem selbst überlassen. Feststeht, dass das Buildern - sofern der Kletterer weiß was er tut und verantwortungsvoll mit dem Sport umgeht - für Mensch und Gebäude ungefährlicher ist als sein Ruf. Ganz klar hat diese spannende Art des Kletterns also auch ihre Daseinsberechtigung. Für Menschen, die an einem schönen Feierabend keine Lust auf eine überfüllte Halle haben, und trotzdem gerne Zeit beim Bouldern verbringen möchten. Menschen, die gerne in ihrer eigenen Stadt unterwegs sind oder eine fremde Stadt mal auf andere Art und Weise kennenlernen wollen. Menschen, die ihre Abenteuer auch gerne vor der eigenen Haustür suchen. Natürlich werden Kletterurlaube in Städte wie Wien, Köln oder Mainz sicherlich nicht die Fahrten nach Fontainebleau, ins Tessin oder ins Frankenjura ablösen. Doch die Kletterer in den Städten sind voller Leidenschaft und Motivation - und lassen sich ganz sicher nicht aufhalten.
Erschienen in: klettern