Besonders geduldig war ich noch nie. Und der Auftrag, den mir Verena Martin gerade anvertraut hat, wird mich bestimmt an meine Grenzen stoßen. Martin ist Chefmaskenbildnerin am Schauspiel Frankfurt, Leiterin eines Teams von acht Mitarbeitern. Ich verbringe einen Tag in der Werkstatt der Maskenbildner, um einen Beruf kennenzulernen, von dem viele glauben, er habe in erster Linie mit Schminke zu tun. Dagegen spricht schon meine erste Aufgabe an diesem Tag: Ich knüpfe einen Bart.
Seit 1902 ist das Schauspielhaus am heutigen Willy-Brandt-Platz einer der prägenden Orte der Theaterkultur in der Goethe-Stadt. Hier werden Abend für Abend Geschichten erzählt - im Schauspielhaus, den Kammerspielen, dem Bockenheimer Depot und der kleinsten Spielstätte: der Box. Fast 30 Premieren und ebenso viele Wiederaufnahmen sind in diesem Jahr im Repertoire des Ensembles, das seit der Spielzeit 2009/ 10 von Oliver Reese geführt wird.
Ganz klar, dass bei so vielen erzählten Geschichten eine Menge Theaterzauber notwendig ist. Neben Schauspielern und Regisseuren tragen eben die Bühnen-, Kostüm- und Maskenbildner ihren Teil dazu bei, dass jede einzelne Aufführung einmalig wird, die Zuschauer voll und ganz in den Stoff eines Stückes eintauchen können. Neben den Texten macht der riesige Fundus mit unzähligen Requisiten, Kostümen, Perücken und natürlich auch Bärten, wie ich einen vor mir habe, ein Theater aus.
In vielen Schränken und Schubladen suchen Verena Martin und ich zusammen, was wir für den Bart brauchen. Zum Befestigen des Tülls, der den Bart in Form halten soll, reicht sie mir ein Holzstück, auf dem die Bartform bereits vorgeformt ist. „Das macht das Ganze schon mal einfacher", denke ich leichtfertig - noch weiß ich ja nicht was mir blüht. Den Tüllrest zieht Martin aus der Schublade eines wuchtigen weißen Schranks, dessen viele Fächer sich zum Teil nur schwer öffnen lassen. Ein Zettel mit der Aufschrift „Tüllreste" klebt daran; ohne solche Hinweise wären wohl vor allem Neulinge in der vollgestellten Werkstatt vor allem mit Suchen beschäftigt.
Verena Martin braucht die Zettelchen, die auch zu den Fächern mit „Haarschmuck", „losen Zöpfen", und „Holzwicklern" weisen, längst nicht mehr. Viele Jahre hatte sie bereits als Maskenbildnerin am Schauspiel gearbeitet, bevor sie zurück in ihre Heimatstadt Dresden ging, um dort die Maskenbild-Abteilung an der Kunsthochschule zu leiten. Im vergangenen Jahr kehrte die 46-Jährige als Leiterin der Maskenbildnerei ans Schauspiel zurück. Als solche ist es ihre Aufgabe, gemeinsam mit den Kostümbildnern das ästhetisch-künstlerische Konzept der Produktionen zu entwickeln. Außerdem organisiert sie ihre Abteilung, leitet ihre Mitarbeiter und bestellt Materialien. Verena Martin ist das Bindeglied zu den Produktionen, kann die Stücke entwickeln und kreativ beeinflussen. Zeit, ihrem eigentlichen Handwerk nachzugehen, nimmt sie sich immer dann, wenn für sie einen ihrer Kollegen einspringt.
Mit spitzen Montierstiften, einem Hammer und einer Zange befestige ich derweil meinen Tüll an dem Holzblock, der mit viel Fantasie einem Kopf ähnelt. „Immer in die entgegengesetzte Richtung arbeiten und schön fest spannen", gibt mir Martin als Tipp mit auf den Weg, als sie die Werkstatt für einige Minuten verlässt. Als Chefin des Maskenbilds ist sie gerade in den Tagen vor Beginn der neuen Spielzeit, wenn mehrere Produktionen gleichzeitig anlaufen, unter Dauerstrom. Eines ihrer Telefone klingelt sicherlich alle paar Minuten.
An diesem Tag bereiten sich die Theatermitarbeiter auf ganze drei Produktionen vor, die zum Beginn der Spielzeit Premiere feiern sollten. Für „Mysterien" (das wie die anderen beiden Stücke inzwischen schon seine Premiere hinter sich hat, Anm. d. Red.) müssen an diesem Tag nur noch Kleinigkeiten abgestimmt werden, doch in die Hauptproben von „Glaube, Liebe, Hoffnung" und „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui" müssen die Maskenbildner noch einiges an Arbeit hineinstecken. Die Schauspieler der beiden Premieren-Produktionen für den Auftakt der neuen Spielzeit werden an diesem Tag zum ersten Mal geschminkt. Ob ihre Aufmachung schon im ersten Anlauf gelungen ist, sehe man oft erst auf der Bühne, sagt Martin, die schon unzählige Stücke als Maskenbildnerin betreut hat.
Einstechen, Haar mit dem kleinen Haken an der Knüpfnadel greifen, durchziehen, herumschlingen, knoten, ziehen, gerissen . . . Zum dritten Mal in Folge reißt mir beim Versuch, eine der Fasern des Bartkrepps in meinem Tüll zu verknoten, das Haar. Respektable drei Härchen haben die Behandlung durch meine ungeübten Hände zumindest schon überlebt und sind sogar erstaunlich schön verknotet. Nebenbei versuche ich mit meinen heutigen Kollegen ein halbwegs sinnvolles Gespräch zu führen, was neben dem „Einstechen, greifen, durchziehen . . .", das mir immer wieder durch den Kopf geht, gar so einfach ist.
Wie lange es bei Jan Bundil, der mir immer wieder Tipps gibt, gedauert habe, bis er so routiniert wie jetzt an einer Perücke arbeiten konnte? „Wenn du deine erste Perücke fertig hast, bist du drin", entgegnet er schmunzelnd. Zweifelnd begutachte ich meine zehn Knoten im Tüll, der von den vielen Einstichversuchen schon reichlich ramponiert aussieht.
Rund um diese Quälerei erfahre ich, dass das Bild, das ich bisher vom Beruf des Maskenbildners hatte, reichlich verzerrt war. Vor schicken Schminkspiegeln stellte ich mir - wie viele andere - die Männer und Frauen vor und nicht in der Werkstatt. „Wir sind mehr als nur die Puderluder, die am Abend ein paar Stunden mit dem Abtupfen der Schauspieler beschäftigt sind", sagt dazu Verena Martin. Sie weiß, dass viele ein falsches Bild über ihren Beruf haben, die meisten fänden im Leben aber auch nie die Möglichkeit, nachzufragen.
Erfahren würden die Neugierigen dann, dass Maskenbildnerei eine häufig haarige Angelegenheit ist. Verena Martin zeigt mir einen der Perückenschränke, in dem hunderte Perücken nach Farben sortiert in einem großen begehbaren Schrank hängen. Einige davon können auch immer wieder umfrisiert werden. Immerhin kosten 100 Gramm Haare mehrere hundert Euro. Und drei- bis viermal so viel brauchen die Maskenbildner für eine Perücke. Vor allem, weil mindestens drei verschiedene Farben gebraucht werden, damit die künstlich geschaffene Haarpracht natürlich aussieht. „Die Arbeit an einer Perücke dauert im Schnitt etwa 60 Stunden", verblüfft mich Bundil.
Die meisten Perücken werden individuell für ein Stück und den jeweiligen Darsteller hergestellt. Von jedem neuen Schauspieler, der zum Theater kommt, wird ein Gipsabdruck vom Schädel angefertigt, um später nach Maß Kopfbedeckungen herstellen zu können. Mithilfe der Gipsabdrücke werden Köpfe aus Kaltschaum gefertigt, auf die der Tüll für die Perücken-Basis aufgesteckt wird.
Wie viele Knoten in so einer Perücke stecken, kann Verena Martin nicht sagen. „Auf jeden Fall habe ich in meinem Leben schon ein etliche tausend davon gemacht", sagt sie und lacht. Die 20 Knoten, die ich in ihrer Abwesenheit hinbekommen habe, beäugt sie streng, ist aber ganz zufrieden mit ihrer Schülerin. Für auf die Bühne reicht mein hundertstel Bart allerdings nicht.
Hat man im Gegensatz zu mir eine Perücke tatsächlich zu Ende geknüpft, wird sie direkt am Schauspieler zurecht frisiert, erklärt Beate Bauer, die wie die anderen Kollegen ebenfalls eifrig an einer Perücke knüpft. In ihrem Fall ist es aber eine Reparaturarbeit. „Sie wird schon seit einiger Zeit in der Inszenierung von ,Der talentierte Mr. Ripley' verwendet und hat durch die vielen Wäschen ein wenig gelitten", sagt sie.
Die 40-Jährige ist wie die meisten hier mit einer Friseurlehre in ihren Beruf gestartet. Erst danach wurde sie zur Ausbildung als Maskenbildnerin zugelassen. „Früher hat die Ausbildung ganze sechs Jahre gedauert, heute haben die Auszubis nur noch einen Kurs im Haareschneiden im Rahmen einer dualen Ausbildung, die sie am Theater absolvieren", erzählt sie.
Dabei sei gerade die Friseurlehre hilfreich für den Beruf, findet Bauer. „Da lernst du eine Menge über den ganzen psychologischen Faktor, den Dienst am Kunden. Als Maskenbildner musst du gerade vor der Aufführung Ruhe verbreiten und wissen, wie du die einzelnen Leute anpackst." Ihre Zeit im Friseursalon will sie schon deshalb nicht missen.
Die Arbeit in der Maske, die dem Beruf seinen Namen gibt, nimmt tatsächlich die wenigste Zeit der Angestellten ein. Aber natürlich gibt es sie. Martins Kollegen schminken gerade die Darsteller für die beiden Inszenierungen, die im Schauspielhaus und in den Kammerspielen geprobt werden sollen.
Ob es denn stimme, dass die Schauspieler für die Bühne immer so stark geschminkt werden müssen, frage ich Verena Martin. Das komme ganz auf die Produktion an, entgegnet sie. „Es macht einen Riesenunterschied, ob du für die Oper schminkst, wo zwischen Schauspieler und Publikum noch der Orchestergraben ist oder für die Box, wo der Zuschauer fast mitten im Geschehen sitzt." Das Make-up für „Mysterien", das in der Box gezeigt wird, fällt also relativ dezent aus. Und die Perücken, die endlich zum Einsatz kommen, wirken an den Schauspielern täuschend echt.
Bleibt mir nur noch, mir auf der Bühne das Schauspiel anzusehen, das das große Team von Darstellern, Maskenbildnern, Regisseuren, Technikern, Kostümbildnern etc. geschaffen haben. Das Licht geht aus und ich tauche ein in andere Welten und Geschichten.
Erschienen in: Frankfurter Neue Presse