Mehr als nur Strom: Die Energiewende dreht auch die Ingenieurwissenschaften in völlig neue Richtungen
Eine echte Revolution ist in der Energiebranche zugange. Nachhaltigkeit wurde zum Begriff, der es von den gutgemeinten Heftchen idealistischer Ökoaktivisten in die ganz großen Branchenreporte geschafft hat. Vor gut fünf Jahren, am 30. Juni 2011, beschloss der Bundestag mit 513 zu 79 Stimmen das 13. Gesetz zur Änderung des Atomgesetzes. Noch im September des Vorjahres hatte die schwarz-gelbe Regierung dafür sorgen wollen, dass die Atomkraftwerke länger als geplant betrieben werden können. Dann kam Fukushima. Wenn Prof. Dr.-Ing. Martin Faulstich, Vorsitzender des Umweltrats der Deutschen Bundesregierung, vom "Paradigmenwechsel sondergleichen" spricht, dann ist damit aber mehr gemeint als die so in die öffentliche Aufmerksamkeit gerückte ›Stromwende‹. "Der ganze Verkehrsbereich muss auf erneuerbare Energien, sprich auf Elektromobilität umgestellt werden. Ebenso die großindustriellen Prozesse, also Stahlwerke, Zementwerke, Kupferhütten - diese ganzen Produktionsverfahren werden letztendlich mit erneuerbaren Energien betrieben."
Vom Endenergiebedarf sind nur 20 Prozent durch Strom, dafür 30 Prozent durch den Verkehrs- und 50 Prozent durch den Wärmebereich manifestiert. Die Stromwende, also 20 Prozent des Energieverbrauchs, ist bereits auf einem guten Weg. Bleiben allerdings noch die Bereiche der restlichen 80 Prozent. Faulstich, Lehrstuhlinhaber für Umwelt- und Energietechnik an der Technischen Universität Clausthal, bringt es auf den Punkt: "Das Ziel der Bundesregierung, dass wir bis 2050 weitestgehend klimaneutral arbeiten, heißt ja im Grunde, dass alle Industriebereiche in wenigen Jahrzehnten mit erneuerbaren Energien betrieben werden." Deshalb wird die Energiewende zum entscheidenden Thema für alle Ingenieurgruppen von Maschinenbau bis Elektroingenieur.
Energiewende in der AutomobilindustrieSeptember 2015: ›Dieselgate‹. Dieser Fauxpas aus einer der größten Branchen für Ingenieure in Deutschland zeigt, wie teilweise mit fragwürdigen Mitteln versucht wird, Klimaschutz vorzutäuschen. Dabei geht es in der Automobilindustrie schon lange nicht mehr um geringe Verbrauchswerte, denn das ganze Mobilitätsverhalten der Menschen in Großstädten verändert sich. Der Traum vom eigenen Auto weicht dem Bewusstsein, dass es viele Möglichkeiten gibt, in der Stadt mobil zu sein. "Die Automobilindustrie wird sich viel stärker vom reinen Hersteller von Fahrzeugen zum Mobilitätsanbieter entwickeln", resümiert Faulstich.
Auch die Elektromobilität wird dabei eine Rolle spielen, auch wenn sich der Markt nicht so schnell entwickelt hat, wie in vergangenen Jahren vermutet. "Das liegt natürlich in der Natur der Sache. Die großen Automobilkonzerne, die über Jahrzehnte die Diesel- und die Benzintechnologie optimiert haben, besitzen Anlagen, die sie noch abschreiben müssen. Ein Großteil ihrer Fachleute ist noch immer auf diese Bereiche spezialisiert." Für den Vorsitzenden des Sachverständigenrats für Umweltfragen also keine Überraschung: "Deshalb verfolgen sie das Thema Elektromobilität aus unserer Sicht noch nicht mit der gebotenen Dynamik."
Die Energiewende setzt auch auf ITHat sich in Deutschland jahrzehntelang in der Energietechnik alles auf ein paar hundert Anlagen konzentriert, entstehen mit dem Fortschreiten der Energiewende Millionen von dezentralen Kleinkraftwerken, betrieben durch Wind, Biogas, Geothermie oder Photovoltaik. Diese Anlagen müssen miteinander vernetzt werden. Messsteuerregeltechnik und damit IT-Kenntnisse spielen auch hier eine größere Rolle als je zuvor. Prof. Dr. Faulstich glaubt, dass sich der erhöhte IT-Bedarf auf alle Ingenieurbranchen niederschlägt: "Heute werden Materialien und Rohstoffe in der ganzen Welt verfolgt, auch über intelligente Kennzeichnung. Der ganze Bereich IT durchdringt sicherlich alle Ingenieurbereiche und nicht nur die klassische Informatik."
"Neben der größeren Bedeutung von Umwelt- und Klimaschutz für Ingenieure, ist ein weiterer Trend, dass klassisches Fachwissen alleine nicht reicht. Ein Ingenieur muss für seine Projekte stärker um gesellschaftliche Akzeptanz werben können." Martin Faulstich, Geschäftsführer des CUTEC Instituts an der TU Clausthal, Vorsitzender des Sachverständigenrats für Umweltfragen
Solarthermie und Photovoltaik"In Deutschland werden zwei Säulen für 100 Prozent an erneuerbaren Energien entscheidend sein: Wind und Sonne - das ist ziemlich klar", unterstreicht der Umweltprofessor. Bei der Sonnenenergie stehen dabei Photovoltaik und Solarthermie im Fokus. Die Photovoltaik profitiert vor allem von gesunkenen Kosten von Komponenten wie Solarmodulen. Laut US-Institut Worldwatch könnten allein in der PV-Solarindustrie bis 2030 weltweit mehr als 6,3 Millionen Arbeitsplätze entstehen, bisher sind es wenige hunderttausend. "Der Bereich solarthermischer Stromerzeugung, ist noch nicht ganz so weit, hier sind die weltweiten Zuwachszahlen noch geringer", so Galina Kohlwek von der Flabeg FE aus dem bayrischen Furth im Wald, die am Großprojekt Noor I in der marokkanischen Wüste beteiligt ist. Noor I ist eine riesige solarthermische Anlage, die von den natürlichen Gegebenheiten in der Wüste profitiert und schon bald einen großen Teil des marokkanischen Energiebedarfs decken soll. "Für die Zukunft erwarten wir aber, dass weitere Lerneffekte die Kosten senken werden und die Märkte die technischen Vorteile - insbesondere die Fähigkeit, Energie zu speichern und so auch nachts günstig Strom zu produzieren - stärker honorieren." Bei Flabeg FE setzt man auf die gut ausgebildeten Absolventen der deutschen Hochschulen. Die erwartet dann auch vielfältige Aufgaben: "Unser Engineeringteam im Rheinland hat eine neue Kollektortechnologie entwickelt, die aktuell in einer Testanlage in den USA betrieben wird. Auch hier gab es von Planung, über Bauabwicklung, bis hin zur Versuchsauswertung viele Teilprojekte, für die unterschiedliche Ingenieure verantwortlich waren."
Onshore- und Offshore-WindenergieWährend Photovoltaikanlagen auch auf Dächern installiert werden können, kommt die Windkraft aufgrund der benötigten Fläche schnell an ihre Grenzen. Ungefähr zwei Prozent der Landesflächen müssen für 100 Prozent erneuerbare Energie mit Windkraftanlagen bestückt werden. "Was aber auf lange Sicht noch wachsen wird, ist die Offshore-Energie", nimmt Prof. Faulstich an. "Die ist natürlich aufgrund der rauen Bedingungen auf dem Meer komplexer. Andererseits haben wir dort sehr viel mehr Fläche zur Verfügung, die nicht im Konflikt mit Anwohnern oder der Landschaftsästhetik steht." Aber auch die deutsche Onshore-Windindustrie beschäftigte laut Bundesverband WindEnergie bereits 2014 etwa 130.500 Menschen und erwirtschaftete ein Umsatzvolumen von 11,8 Milliarden Euro.
Zu frühe Spezialisierung vermeidenBei einer Sache sind sich die Experten einig: Der Student sollte sich im Ingenieurbereich auf keinen Fall zu früh spezialisieren. Denn Technologien verändern sich schnell und teilweise unvorhergesehen. "Deswegen ist es doch wirklich zweckmäßiger, Bachelor- und Masterstudiengänge möglichst breit anzulegen", rät der Vorsitzende des Sachverständigenrats für Umweltfragen. "Elektrotechnik, Maschinenbau, Bauingenieurwesen, Verfahrenstechnik und auch die klassischen Naturwissenschaften bieten immer noch die beste Basis, um sich auf viele Neuigkeiten einzustellen, die in den nächsten Jahren und Jahrzehnten auf uns zukommen."
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