Ruth Herberg

Redakteurin Politik, Frankfurt

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Projekt „Stimmgeber": Menschen mit Behinderung haben ein Recht auf politische Mitbestimmung

Viele Menschen mit geistiger Behinderung dürfen dieses Jahr zum ersten Mal in die Wahlkabine. Doch in der Gesellschaft werden ihre Stimmen häufig ignoriert. Heilerziehungspfleger Sascha Kirchhoff will das ändern.

Wenn am 26. September gut 60 Millionen Bürger:innen zur Bundestagswahl aufgerufen sind, ist das für etwa 85 000 von ihnen eine Premiere. Nicht, weil sie bis dato zu jung waren, sondern weil sie bis dato ausgeschlossen waren: Menschen mit einer Behinderung, die in allen relevanten Lebensbereichen eine Betreuung haben. Vor zweieinhalb Jahren erklärte das Bundesverfassungsgericht diesen Ausschluss für verfassungswidrig, die schwarz-rote Koalition änderte daraufhin das Bundes- und Europawahlgesetz.

„Das ist ein Riesenfortschritt", sagt Sascha Kirchhoff, „allein schon, weil Menschen mit Behinderung das Gefühl haben: Ich darf mitreden, ich darf meine Stimme abgeben und sie ist genauso viel Wert wie die meines Betreuers." Kirchhoff, von Beruf Heilerziehungspfleger, arbeitet bei der Lebenshilfe im hessischen Dillenburg im betreuten Wohnen und als Kulturreferent. Er besucht Menschen mit einer geistigen Behinderung, die in einer eigenen Wohnung oder einem eigenen Haus leben, und unterstützt sie in ihrem Alltag.

Inklusion in Deutschland: Die Stimmen behinderter Menschen werden zu häufig ignoriert.

Dass diese Menschen nun zumindest bei der Bundestagswahl eine Stimme haben, freut ihn. In der Gesellschaft vermisst er die allerdings. Genau das will er mit seinem Projekt „Stimmgeber" ändern und erreichen, dass die Menschen wahrgenommen werden. Dass nicht nur über sie, sondern mit ihnen gesprochen wird - eben dass sie Teil der Gesellschaft sind.

Angefangen hat alles mit Schreibworkshops für psychisch kranke Erwachsene und Kinder, die Kirchhoff zusammen mit Rainer Staska, einem befreundeten Förderschullehrer, organisiert hat. „Die Texte waren so gut und so bewegend, dass wir dachten: Das ist eine Schande, dass wir die nirgendwo vortragen können", sagt Kirchhoff, der wie Staska in der Freizeit Poetry Slammer ist. So entstand die Idee, Schüler:innen eines benachbarten Gymnasiums die Texte der kranken Kinder bei den Poetry Slams von Kirchhoff und dessen Bekannten vortragen zu lassen.

Die Resonanz war so positiv, dass neben den Poetry Slams aus dem Projekt mittlerweile neun Bücher hervorgegangen sind, mit Texten von Menschen mit psychischen Erkrankungen, Behinderung, aber auch Fluchterfahrungen - Stimmen, die sonst nur selten gehört werden. 2014 bekamen Kirchhoff und Staska dafür den Hessischen Landespreis für soziales Bürgerengagement. Mittlerweile gibt er Menschen mit Behinderung nicht nur eine Stimme, sondern auch ein Gesicht: Für Kirchhoffs Instagram-Account lichtet sie ein professioneller Fotograf ab, in den dazugehörigen Posts berichten sie, was sie beschäftigt, bewegt, beflügelt.

Menschen mit Behinderung werden immer noch nicht ernst genommen. Ich höre immer nur: „Das sollst du net."

Post von Stefan auf dem Instagram-Account des Projekts „Stimmgeber"

Nadine sagt etwa über ihre Mukoviszidose: „Heute ist es nicht leicht, aber ich gebe nicht auf. Aufgeben kannste bei der Post. Wenn du Teil des Lebens sein willst und das Leben liebst, kannst du nicht aufgeben." Matthias erzählt von seinem Kumpel Michael: „Wir kochen zusammen und schauen gemeinsam Fernsehen. Ich mag, dass er gute Soßen machen kann. Wir mögen uns, und das ist das Wichtigste an einer Freundschaft. Wenn Michael nicht da ist, dann ist das traurig." Und Stefan diktiert: „Menschen mit Behinderung werden immer noch nicht ernst genommen. Ich höre immer nur: ‚Das sollst du net.'"

Die Serie

Zur Bundestagswahl am 26. September will die FR denjenigen Gehör verschaffen, die sich auch jenseits der Parteien engagieren: für neue Formen des Wirtschaftens, die den Planeten nicht zerstören. Für wohnliche Städte, gesunde Ernährung, umweltfreundliche Mobilität. Für mehr politische Teilhabe und Gleichberechtigung. Diese Menschen haben den Mut , auch das zu wählen, was nicht zur Wahl steht. Oft sind es nachdenklich-leise Töne, die von den Mächtigen in Politik und Wirtschaft arrogant ignoriert und von rechtspopulistischen Lautsprechern übertönt werden.Die FR-Serie „Wir können auch anders" soll ein Verstärker für diese inspirierenden Stimmen sein. Auch Sie, die Leserinnen und Leser, können sich an unserer Serie beteiligen. Was wäre das erste, das die nächste Bundesregierung tun sollte? Schreiben Sie Ihre Antwort in einem bis drei Sätzen auf und schicken Sie sie an bundestagswahl21@fr.de . Eine Auswahl veröffentlichen wir im Rahmen der Serie. In der nächsten Folge geht es um globale Verantwortung. Sie erscheint am Freitag, 29. Juni. Zuletzt erschienen: eine Folge zum Thema Umverteilung am Freitag, 25. Juni. Alle Teile zum Nachlesen unter fr.de/Bundestagswahl

Mit dem hessischen Landesverband der Lebenshilfe organisiert Kirchhoff zur Bundestagswahl außerdem das Videoprojekt „Ich habe eine Meinung". In kurzen Clips kommen hauptsächlich Menschen mit Behinderung zu Wort. Außerdem fragt das Team die Union, die SPD, die Grünen, die Linke, die FDP und auch die AfD an, damit die in leichter Sprache erklären, warum sie gewählt werden sollten. Ein neutraler Experte soll die Statements der Politiker:innen einordnen und mit dem vergleichen, was die jeweilige Partei in den vergangenen Jahren für Menschen mit Behinderung tatsächlich getan hat.

In Sachen Behindertenpolitik ist in den vergangenen Jahren wenig Positives geschehen.

Die beteiligten Menschen mit Behinderung wiederum äußern sich zu Themen wie Klimawandel oder Bildungsgerechtigkeit - damit sie auch bei diesem Projekt, wie Kirchhoff betont, nicht auf ihre Behinderung reduziert werden. „Politik ist bei vielen meiner Klient:innen Thema", sagt er. Fast alle schauten Nachrichten, informierten sich. „Das fängt beim Umgang mit Flüchtlingen an und geht bis zur Frage: Darf ich aus Umweltgründen noch einen Plastikbecher benutzen?"

Da ist zum Beispiel Ilonka, 29, die sich wünscht, dass „wir Menschen mit Beeinträchtigung mehr wahrgenommen werden. Mehr Gerechtigkeit." Matthias, 36, fordert in der Stadt mehr Ampeln mit akustischem Signal für Blinde. Und Lothar, 65, verlangt ganz praktisch von den politisch Aktiven: „Die sollen mal ihre Parteibücher wegschmeißen und sich zusammensetzen."

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Auch die Wohnungspolitik und bezahlbare Mieten beschäftigten viele, denn das wirke sich unmittelbar aus, sagt Kirchhoff. Wer im betreuten Wohnen lebt und in einer Werkstatt arbeitet, bekommt zusätzlich zu dem geringen Lohn oft Grundsicherung. „Sie dürfen sich dann nur eine 43-Quadrat-Meter-Wohnung mit ‚angemessener' Miete leisten", sagt Kirchhoff. „Und das bedeutet: Sie wohnen oft am Stadtrand in Problembezirken - und nicht, wie es immer heißt, in der Mitte der Gesellschaft.

Für eine zukunftsfähige Politik müssen Menschen mit Behinderung in der Mitte der Gesellschaft leben, sagt Sascha Kirchhoff.

Ähnlich blickt er auf die vergangenen Monate: „Die Debatte in der Pandemie über die Situation in Krankenhäusern und Pflegeheimen war wichtig. Dabei wurde nur vergessen, dass in den Wohnheimen für Menschen mit Behinderung die Situation exakt die gleiche war." Bei der Impfpriorisierung wiederum seien die Menschen, die zu Hause betreut werden, zunächst vergessen worden. „Für jemanden, der sich sowieso ausgeschlossen fühlt, ist das ein Schlag ins Gesicht."

Von der künftigen Bundesregierung fordert er deshalb, die UN-Behindertenrechtskonvention tatsächlich umzusetzen und nicht nur zu wollen. Dem 2006 von den Vereinten Nationen verabschiedeten Übereinkommen zufolge haben Menschen mit Behinderung selbstverständlich ein Recht auf Teilhabe. Es sei politisch gewollt, dass sie in der Mitte der Gesellschaft leben, sagt Kirchhoff; „aber dann sind wir wieder beim Mangel an bezahlbarem Wohnraum". Es sei politisch gewollt, dass sie nicht in Werkstätten, sondern auf dem sogenannten ersten Arbeitsmarkt arbeiten; „aber wenn einer von meinen Klient:innen keine Lust mehr hat und auf den ersten Arbeitsmarkt will, dann ist das unfassbar schwer. Da müssen Barrieren abgebaut werden, als allererstes im Kopf."

Eine zukunftsfähige Politik kann in Kirchhoffs Augen nur ein Ziel haben: Menschen mit Behinderung sind wirklich Teil der Gesellschaft, kommen im Stadtbild vor, in Vereinen und in sozialen Netzwerken. In seiner Utopie ist die Gesellschaft so inklusiv, dass es dieses Label gar nicht mehr braucht. Dass seine Klient:innen nicht mehr schräg angeschaut werden, wenn sie in der Stadt unterwegs sind. Dass jede:r jeden Tag einem Menschen mit Behinderung begegnet. „Weil all das ganz normal ist".

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