Ruth Herberg

Redakteurin Politik, Frankfurt

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Wer hilft den Helfenden?

Im Medizinbetrieb sind Sexismus und sexualisierte Gewalt weit verbreitet, doch es gibt nicht genug Aufmerksamkeit für das Thema. Das kann fatale Folgen haben.

Martina Schell kann den Moment nicht benennen, an dem ihr klar wurde, dass ihr Psychotherapeut sie missbrauchte. Aber sie erinnert sich an ein ungutes Gefühl, dass sie über viele Wochen begleitete.

Als ihr Therapeut ihr seine Strickjacke für die Sitzung ausgeliehen habe, weil ihr kalt war, und danach gesagt habe, das rieche so gut nach ihr. Als er sie einen Vertrag für Körpertherapie unterschreiben ließ, in dem stand, dass der „gesamte Brust- und Becken bzw. Intimbereich" einbezogen wird, und der eine Verschwiegenheitspflicht beinhaltete. Als sie unbekleidet in seinem Behandlungszimmer saß, er ihre Brüste anfasste und gesagt haben soll: „mann, sind die groß". Als er seinen Finger in ihre Scheide einführte.

2020 wurde der Arzt deshalb zu einer Geldstrafe verurteilt, wegen sexuellem Missbrauch unter Ausnutzung eines Behandlungsverhältnisses. Martina Schell ist Allgemeinmedizinerin und heißt eigentlich anders, ihren richtigen Namen möchte sie nicht öffentlich machen. Ihre Schilderungen konnten wir anhand rechtlicher Unterlagen überprüfen. Der Angeklagte sei im Wesentlichen geständig gewesen, steht in dem Urteil. Zu ihrem Therapeuten kam sie, weil sie nach zwei Todesfällen im engsten Familienkreis dekompensiert war - sie war psychisch am Ende, brach zusammen. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie gerade selber eine Weiterbildung zur Psychotherapeutin begonnen, weil sie das Fachgebiet interessierte. Das Thema sexueller Missbrauch sei in ihrer bis dahin etwa zehnjährigen medizinischen Ausbildung quasi nicht vorgekommen. Nur weil sie an Ihrer Universität auf Eigeninitiative das Wahlfach Ethik belegt hatte, sei sie mit dem Thema in Berührung gekommen, erinnert sie sich.

Sexueller Missbrauch in der Therapie

Schell vertraute ihrem Therapeuten. Auf seine Verschreibung hin nahm sie schwere Psychopharmaka, doch es ging ihr immer schlechter statt besser. Heute weiß sie, dass es die Folgen des Missbrauchs waren, damals dachte sie, sie brauche noch mehr Hilfe ihres Therapeuten. Der habe ihr anzügliche Komplimente über ihr Aussehen gemacht, lud sie zu sich nach Hause ein, die Grenzen zwischen Therapie und Privatleben verschwammen. Für die Komplimente und ungewöhnlichen Behandlungsmethoden ihres Therapeuten suchte Schell zunächst Rechtfertigungen. Vielleicht wolle er nur ihr Selbstbewusstsein verbessern, dachte sie, oder ihr bei Verspannungen helfen. „Ich hätte zu dem Zeitpunkt wirklich alles gemacht, was er gesagt hat, ich wäre auch vom Hochhaus gesprungen", erinnert sie sich. Als ihre Therapie nach mehreren Monaten verlängert werden sollte, lehnte ein Gutachter ab. Es sei eine Zuspitzung der Problematik zu erkennen, schreibt der Gutachter. Schell war zu dem Zeitpunkt bereits so tief im Abhängigkeitsverhältnis, dass sie wütend wurde, wie sich der Gutachter erdreisten könne, ihr den Zugang zu ihrer Therapie zu verweigern. „Ich habe meine Intuition und die professionelle Stimme in mir einfach konsequent überhört", erinnert sie sich. Das ungute Bauchgefühl schob sie beiseite.

Dann bot ihr Therapeut an, sie könne die sogenannte „Selbsterfahrung" bei ihm machen - ein fester Bestandteil jeder Therapie-Ausbildung. Dabei sollen die angehenden Therapeut:innen Empathie für das Verfahren und ihre künftigen Patient:innen entwickeln, eigene Schwächen reflektieren, Stärken ausbauen. Er legte ihr einen Flyer für eine „Körpertherapie für sexuelle Störungen" vor, eine einfache Din-A4 Seite als Faltblatt. Darauf werden „spezielle physikalischen Maßnahmen" erwähnt, und dass ein genügendes Vertrauensverhältnis von Patienten Voraussetzung für die Therapie sei. Schell willigte ein, ging weiter zu den Stunden und zahlte privat, insgesamt mehrere tausend Euro, erinnert sie sich.

Hätte Martina Schell zu diesem Zeitpunkt mehr über Grenzverletzungen im Arzt-Patienten-Verhältnis gewusst, vielleicht hätte sie spätestens zu diesem Zeitpunkt die Behandlung abgebrochen, die gefährliche Entwicklung erkannt. Während ihrer Psychotherapie-Weiterbildung aber wurden derartige Grenzverletzung nicht besprochen.

„In der Ausbildung der Ärzte wird viel zu wenig oder gar nicht thematisiert, was Missbrauch von Patienten bedeutet und dass das strafbar ist", sagt Schell heute. Eine seriöse Selbsterfahrung für ihre Ausbildung, sagt Schell, habe sie erst viele Jahre später nachgeholt.

In der Ausbildung der Ärzte wird viel zu wenig oder gar nicht thematisiert, was Missbrauch von Patienten bedeutet und dass das strafbar ist.

Martina Schell (Name geändert), Ärztin

Vor mehreren Monaten zeigte Ippen Investigativ* in einer Recherche, dass Behörden oft versagen, wenn es darum geht, Missbrauchstäter aus dem Medizinbetrieb zu stoppen oder zu bestrafen - und dass Betroffene es oft schwer haben, Gehör und Unterstützung zu finden. An diesem strukturellen Problem ändert sich seit Jahren kaum etwas, die Missbrauchsopfer sind die Leidtragenden.

Doch das Problem geht tiefer. Im Medizinbetrieb fehlt es nicht nur an Strafen und der Verfolgung von sexualisierter Gewalt, es fehlt auch an Prävention und Aufklärung.

Gemeinsam mit der Frankfurter Rundschau hat Ippen Investigativ in den vergangenen Monaten Kliniken in mehreren Bundesländern angefragt, mit zahlreichen Expert:innen gesprochen, Studien gelesen und 50 Antworten einer eigens erstellten Umfrage ausgewertet.

Die Recherchen zeigen: Obwohl sexualisierte Gewalt im Arzt-Patienten-Verhältnis eine besonders schwere Form des Vertrauensmissbrauchs ist und das Potential hat, Existenzen zu zerstören, ist sie bis heute ein Nischenthema. Im Medizinbetrieb wird dem Problem nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Und auch unter Mediziner:innen selbst scheinen Übergriffe und Missbrauch weit verbreitet zu sein.

In den Ausbildungen ist das Thema nicht vorgeschrieben

In dem Gesetz für die bundeseinheitlich geregelte Pflegeausbildung werden Sexismus, sexualisierte Gewalt oder Missbrauch unter medizinischen Beschäftigten nicht explizit behandelt. Dasselbe gilt für die Regelungen zum Medizinstudium sowie die fachärztliche Weiterbildung. Pflegeschulen, Universitäten und Kliniken können die Thematik zwar in ihre Lehr- und Fortbildungspläne aufnehmen - sie gehört allerdings nicht zu den verpflichtenden Inhalten.

Folgen Sie der Autorin Juliane Löffler für mehr Recherchen zum Thema auch auf Twitter. Für Hinweise schreiben Sie an: juliane.loeffler@buzzfeed.de

Um zu verstehen, wie an den Krankenhäusern damit umgegangen wird, haben Ippen Investigativ und die Frankfurter Rundschau stichprobenartig in den fünf bevölkerungsreichsten Bundesländern die jeweils größten Kliniken angefragt. Wir wollten wissen, inwiefern dort Sexismus, sexualisierte Gewalt und Missbrauch unter den medizinischen Beschäftigten Thema in der Aus- und Fortbildung von Ärzt:innen und Pflegekräften ist.

Dabei zeigte sich: Die Relevanz des Themas ist in diesen fünf Kliniken - Hannover, Stuttgart, München, Köln und Frankfurt - grundsätzlich erkannt worden. Allgemeine Anlauf- und Beschwerdestellen für Betroffene, sowohl für Personal als auch Patient:innen, gibt es an all diesen Kliniken - allerdings sind diese nicht auf das Thema Missbrauch spezialisiert. Ob die Beschäftigten, Ärzt:innen und Pflegekräfte in ihrer Ausbildung dafür sensibilisiert werden, hängt vom jeweiligen Haus ab. In Hessen etwa ist man weiter: dort bietet die Landesärztekammer als eines der wenigen Bundesländer eine spezielle Ombudsstelle an, an die sich vor allem betroffene Patient:innen wenden können. Fragt man in diesem Bundesland die größten Kliniken an, wie es um Prävention und Schutz für Mitarbeitende steht, erhält man ganz unterschiedliche Antworten.

Viele der Kliniken verweisen uns gegenüber auf betriebliche Vereinbarungen, Frauenförder- und Gleichstellungspläne oder dass sich Betroffene an den Gleichstellungsbeauftragten wenden könnten. Es sind vage Formulierungen, konkrete Maßnahmen gibt es kaum. Das Klinikum Kassel etwa schreibt, es biete den Beschäftigten im Rahmen der innerbetrieblichen Fortbildungen regelmäßig Seminare zur Konfliktbewältigung an, in die das Thema sexualisierte Gewalt eingebunden werden könne.

In der Ausbildung der Pflegekräfte an der Agnes-Karl-Schule wird das Thema Sexismus, sexualisierte Gewalt und Missbrauch im Rahmen der Gesundheitsförderung aufgegriffen. „Die Auszubildenden werden für die Thematik sensibilisiert und ihnen werden Ansprechpartner innerhalb der Schule genannt, an die sie sich bei Bedarf wenden können." Und am Universitätsklinikum Frankfurt gebe es „ein niedrigschwelliges Informationsangebot", auch eine konkrete Ansprechpartnerin für Betroffene.

Aus dem Klinikum Wiesbaden hingegen heißt es, „dass Ihr Fragenkomplex für uns aktuell kein Thema ist, zu dem wir sachdienlich beitragen könnten." Aus dem Klinikum Fulda heißt es „Fortbildungen oder Kurse zu diesem Themenkomplex werden derzeit nicht angeboten". Es sei aber angedacht, einen Verhaltenskodex zur Prävention sexueller Gewalt zu implementieren. Eher selten ist eine spezifische Auseinandersetzung mit dem Thema, wie etwa an der Medizinischen Fakultät Dresden: Hier wurde 2018 ein konkretes Handlungskonzept erarbeitet, um sexuelle Belästigung und Stalking am Studien- und Arbeitsplatz zu bekämpfen.

Auch in der Psychotherapie wird Missbrauch offenbar nicht ausreichend thematisiert

Auch in der Psychotherapie gibt es beim Thema Missbrauch in der Aus- und Weiterbildung offenbar Nachholbedarf. Einige Psychotherapeutenkammern, etwa in Berlin, haben inzwischen eigene Ombudsstellen für Opfer von Grenzverletzungen und Missbrauch in der Psychotherapie aufgebaut. In Deutschland gibt es etwa 270 Institute, die psychotherapeutische Aus- und Weiterbildungen anbieten. „Das Thema Missbrauch im Psychotherapeut*innen-Patient*innen-Verhältnis ist in der Aus- und Weiterbildung von Psychotherapeut*innen fest implementiert", schreibt die Bundespsychotherapeutenkammer auf Anfrage, besonders das Abstinenzgebot bilde einen Schwerpunkt - die Regelung also, dass Psychotherapeut:innen unter keinen Umständen sexuelle Beziehungen zu ihren Patient:innen eingehen dürfen, auch über das Ende der Therapie hinaus. Nachholbedarf besteht offenbar trotzdem: „Für das Thema Missbrauch und Grenzverletzungen muss aus unserer Sicht kontinuierlich sensibilisiert werden", schreibt die Bundespsychotherapeutenkammer. Das Thema werde deshalb auch in einem aktuellen Papier des Aktionsbündnisses Patientensicherheit zu „Patientensicherheit in der Psychotherapie" aufgegriffen, das in Kürze veröffentlicht werden soll.

Andrea Schleu vom gemeinnützigenEthikverein bemüht sich seit vielen Jahren, das Thema stärker in die Aus- und Weiterbildungen von Psychotherapeut:innen hineinzutragen. Der Verein bietet Hilfe und Aufklärung bei Grenzverletzungen und Missbrauch in der Psychotherapie.

Dass in den Instituten flächendeckendund ausreichend zu dem Thema gelehrt wird, sieht Schleu nicht. Missbrauch, wie ihn Martina Schell erlebte, kenne sie bereits. „Solche Grenzverletzungen gibt es immer wieder, auch in der Ausbildung. Das bedeutet, dass sogar angehende Psychotherapeut:innen sich unter Umständen nicht mehr zu wehren wissen." Sie wüssten nicht, dass eine sexuelle Abstinenzverletzung nicht nur die Berufsordnung missachtet sondern auch eine Straftat ist. Ein grundsätzliches Problem, findet Schleu.

Der Ethikverein bietet deshalb Fortbildungen, Vorträge und Seminare in ganz Deutschland an - an Instituten, auf Kongressen und in Kliniken. Einen großen Unterschied mache es etwa, sagt Schleu, ob das Thema nur theoretisch behandelt werde oder ob Fälle, wie der von Martina Schell, in der Ausbildung konkret im Rollenspiel durchgespielt und besprochen werden. „Es gibt konservativ geschätzt jedes Jahr 1000 sexuelle Missbrauchsfälle in der Psychotherapie", sagt Schleu. Das allein zeige, dass das Thema nicht ausreichend in der Aus- und Weiterbildung thematisiert werde. „Damit kann man sich nicht zufrieden geben", so Schleu.

Die wenigen Studien deuten an, wie groß das Problem ist

Es gibt keine umfassende Studie dazu, wie häufig es innerhalb des Medizinbetriebs zu Missbrauch und Übergriffen kommt. Einzelne Umfragen und Untersuchungen aber zeigen, wie groß das Problem ist. Laut einer Online-Umfrage des Gesundheitsportals Medscape unter 1000 Beschäftigten im Gesundheitswesen gab vor zwei Jahren jede siebte Ärztin an, in den vergangenen drei Jahren von einem anderen Mitarbeiter sexuell belästigt worden zu sein, zum Beispiel einem Arzt-Kollegen, dem medizinischen Personal oder einem Verwaltungsangestellten. Eine Untersuchung unter Angestellten der Charité-Klinik in Berlin ergab 2018, dass fast jede vierte Befragte ungewollten körperlichen Kontakt im Berufsalltag erlebe.

Um zu verstehen, wann und warum es zu Missbrauch im Medizinbetrieb kommt, wertete Ippen Investigativ rund 50 Erfahrungsberichte von Mediziner:innen und Pflegekräften aus, die an einer eigenen Umfrage teilgenommen hatten. Das Ergebnis ist nicht repräsentativ, zeichnet aber ein breites Stimmungsbild.

Zwei Drittel der Mediziner:innen gaben an, verbale Belästigung oder sexistische Kommentare und non-verbale Zudringlichkeiten wie anzügliche Blicke oder fehlende körperliche Distanz oder Sicherheitsabstand erlebt zu haben. Fast die Hälfte bezeichnete die Übergriffe als sexuelle Nötigung.

Die Mediziner:innen und das Pflegepersonal berichten von Übergriffen durch Kollegen und Vorgesetzte, vielfach aber auch durch Patient:innen. Sie berichten von sexistischen Kommentaren und Begrapschen im Dienstzimmer, Übergriffe durch Kollegen beim Nachtdienst, sexistische Bemerkungen auf der Station, Einladungen zu privaten Treffen durch Vorgesetzte, Berührungen an Po und Taille im OP oder Aufforderungen durch Patienten und seltener auch Patientinnen zu sexuellen Handlungen bei der Pflege.

Fast die Hälfte der Befragten gibt an, sexuell genötigt worden zu sein

Mehrere Personen gaben an, dass die Missstände bekannt seien, aber wenig unternommen werde, um die Täter zu stoppen. Dass Kollegen gemieden würden, über die Geschichten im ganzen Haus bekannt seien, dass man gegen Vorgesetzte kaum etwas unternehmen könne.

Auf die Frage, ob die Befragten auf Grund der Vorfälle ihren Arbeitgeber gewechselt hätten, antworten viele mit Nein. Sie sehen offenbar wenig Hoffnung und schreiben: Es sei überall ähnlich, es handele sich um ein strukturelles Problem. Andere schreiben, sie hätten sich in einem beruflichen Abhängigkeitsverhältnis befunden, etwa im Studium, Praktikum oder der Facharztausbildung.

Davon, dass sexualisierte Gewalt unter Kolleg:innen nicht thematisiert werde, schreiben Befragte in der Umfrage, dass die Probleme ignoriert und totgeschwiegen würden. Und dass es bis heute klare Rollenvorstellungen und ein ausgeprägtes Hierarchiedenken gebe.

Auf die Frage, was sich ändern müsste, haben die Betroffenen verschiedene Vorschläge. Viele sagen, dass sie sich mehr Sensibilisierung für das Problem wünschten, vor allem bei höhergestellten Kolleg:innen, etwa durch Schulungen. „Aktuell ist es ein nicht zu überwindendes Machtgefüge", schreibt eine Betroffene. Viele geben auch an, anonyme Meldestellen oder transparente Beschwerdeprozesse würden helfen. Oder das Thema stärker in der Ausbildung zu thematisieren.

Die Frage, ob das Thema sexualisierte Gewalt und Übergriffe in Ihrer Ausbildung stattfand, verneinen die meisten der Befragten.

Es gibt konservativ geschätzt jedes Jahr 1000 sexuelle Missbrauchsfälle in der Psychotherapie.

Andrea Schleu, Vorsitzende Ethikverein e.V.

Auch Britta Müller kennt das. Sie ist Ärztin und erzählt im Gespräch mit der Frankfurter Rundschau, dass sie in den vergangenen Jahren an verschiedenen Kliniken in mehreren Bundesländern gearbeitet habe. Ihren richtigen Namen will sie nicht öffentlich nennen, da sie berufliche Nachteile fürchtet, wir haben ihn daher geändert. Sexualisierte Sprache und sexuelle Belästigung durch Kollegen habe sie dort immer wieder erlebt. Und auch, dass dieses Verhalten für die Täter oft keine oder kaum Konsequenzen habe. Belästigung, Missbrauch und der angemessene Umgang mit Kolleg:innen seien auch in ihrer Ausbildung kein einziges Mal Thema gewesen, sagt Müller. Sie glaubt, dass das Abhängigkeitsverhältnis eine Rolle spielt, in dem etwa Assistenzärzt:innen stecken, welche die Facharztprüfung noch vor sich haben. „Man ist in der gesamten Facharztausbildung auf Gedeih und Verderb von der Unterschrift dieses einen Chefarztes abhängig und das ist ein Riesenproblem. Man hält jahrelang die Klappe, um da durchzukommen."

Umdenken bei den Behörden

Vereinzelt werden seit einigen Jahren spezialisierte Anlaufstellen installiert, doch die Fortschritte sind überschaubar. Auf Anfrage schrieb die Bundesärztekammer bereits vor zwei Jahren, sie beobachte „mit großer Sorge, dass Ärztinnen und Ärzte Gewalterfahrungen im Allgemeinen und sexualisierter Gewalt im Besonderen ausgesetzt sind." Der 122. Deutsche Ärztetag, das oberste Beschlussgremium der Ärzteschaft, forderte deshalb 2019, dass Arbeitgeber im stationären Bereich regelhaft ein niederschwelliges Hilfsangebot für Ärztinnen und Ärzte sowie die anderen Gesundheitsberufe bereitstellen sollten, damit traumatische dienstliche Erlebnisse adäquat verarbeitet werden können." Auf Anfrage, was sich seitdem verändert hat, verweist die Bundesärztekammer in diesem Jahr auf die Kassenärztliche Bundesvereinigung und die Deutsche Krankenhausgesellschaft. Letztere schreibt auf Anfrage, dass derzeit an neuen Schutzkonzepten gearbeitet werde, um vulnerable Gruppen besser zu schützen. Die Pressestelle verweist auf Dienstvereinbarungen und Richtlinien, die Prävention, Sensibilisierung und Umgang mit Missbrauch und Belästigung regelten. „Da Arbeit in Krankenhäusern unvermeidlich hierarchisch organisiert ist und es zusätzlich ein deutliches sich veränderndes Geschlechterverhältnis in den Berufsgruppen gibt, sind verbindliche Regelungen besonders wichtig." Zudem verweist die Pressestelle auf die Gleichstellungsbeauftragten in den Kliniken. Die Ärztekammer Niedersachsen hat vor einigen Jahren eine Ombudsstelle eingerichtet, in vier Bezirksstellen nehmen ärztliche Psychotherapeutinnen entsprechende Hinweise entgegen. Seit 2020 bietet auch die Ärztekammer Nordrhein eine Beratungsstelle für Betroffene sexueller Übergriffe, die sich dort anonym melden können. Eingesetzt hat sich dafür unter anderem Christiane Groß, Fachärztin für Allgemeinmedizin und Psychotherapie und Präsidentin des Deutschen Ärztinnenbundes.

Es ist wichtig in die Köpfe zu bekommen: Nicht nur eine Vergewaltigung ist ein sexueller Übergriff.

Christiane Groß, Präsidentin des Deutschen Ärztinnenbundes

„Als #MeToo losging, haben wir uns gefragt: Wie können wir sensibilisieren?", sagt Groß gegenüber Ippen Investigativ. „Es gibt mehr Übergriffe, als mancher es zugeben möchte." Im gesamten Gesundheitswesen arbeite man körperlich sehr nah mit anderen Menschen - gleichzeitig gebe es in der Branche viel zu wenig Aufmerksamkeit für das Thema. „Das geht von dummen Bemerkungen bis hin zu Übergriffen mit Gewalt. Es ist die ganze Bandbreite. Es ist wichtig in die Köpfe zu bekommen: Nicht nur eine Vergewaltigung ist ein sexueller Übergriff." Damit sich etwas ändere, sei es auch wichtig, dass Täter:innen gemeldet und genannt werden. Gleichzeitig hofft Groß auf eine Symbolwirkung.

Eine spezialisierte Ansprechstelle war laut Groß außerdem nötig, weil sich betroffene Kolleg:innen sonst nirgendwo richtig aufgehoben fühlten, „und weil wir die Option wollen, sich anonym beraten zu lassen, gegebenenfalls auch von einer externen Anwältin."

Jahrelange Folgen bis heute

Martina Schell wünscht sich, sie hätte in ihren medizinischen Ausbildungen mehr zum Thema sexuelle Übergriffe, Grenzverletzungen und Missbrauch gelernt. Die Verantwortung liege letztlich bei den Behandlern, nicht den Patient:innen, sagt sie. Deshalb müssten alle Ärzt:innen und Psychotherapeut:innen das Thema Missbrauch und sexualisierte Gewalt besser vermittelt bekommen. Wann genau ein Behandler beginnt, sich strafbar zu machen. Wie verheerend die Folgen für Patient:innen sind. Nach dem Missbrauch durch ihren Therapeuten benötigte Schell eine akute psychiatrische Behandlung, um sich zu stabilisieren, sie war suizidal. Danach ging sie über viele Jahre in Psychotherapie, um das Geschehene zu verarbeiten, bis heute. Erst vier Jahre nach dem Vorfall fühlte sie sich stabil genug für eine Anzeige, kurz bevor der Fall nach fünf Jahren zu verjähren drohte. Der Therapeut ging nach der Verurteilung mit einer Rente in den vorzeitigen Ruhestand. Schell kann bis heute keine sexuelle Nähe ertragen. *Ippen Investigativ ist ein Angebot von IPPEN.MEDIA

Dieser Text ist Teil einer mehrteiligen, internationalen Recherchereihe zu Missbrauch in der Medizin, gefördert durch die Otto Brenner Stiftung, den Journalismfund.EU und das „Publication Support Scheme" von Investigative Journalism for Europe (IJ4EU) in Zusammenarbeit mit dem International Press Institute (IPI), European Journalism Centre (EJC) und dem European Centre for Press and Media Freedom (ECPMF). IJ4EU und alle Partner der Förderung sind nicht verantwortlich für den veröffentlichten Inhalt und jedwede Weiterverwendung. Weitere Texte erschienen bei BuzzFeed News Deutschland und IPPEN.MEDIA sowie in weiteren Medien auf französisch, italienisch, kroatisch und englisch. Die für Ihre Region zuständige Landesärztekammer Ethikverein: info@ethikverein.de Beratungszentrum für sexuelle Grenzverletzung in professionellen Beziehungen, Werner Tschan (Schweiz) Die Ombudsstelle für Fälle von Missbrauch in ärztlichen Behandlungen (Hessen), Meinhard Korte Unabhängiger Beauftragter bei Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) Opferschutzbeauftragte der Bundesländer Anlaufstellen über den Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (BFF) Örtliche Polizeibehörden Beschwerdestellen, Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte in Kliniken und Krankenhäusern Folgen Sie der Autorin Juliane Löffler für mehr Recherchen zum Thema auch auf Twitter. Für Hinweise schreiben Sie an: juliane.loeffler@buzzfeed.de Hier finden Sie Hilfe bei Missbrauch oder Übergriffen im Medizinbetrieb:
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