Der Tonfall der seit Wochen in Österreich schwelenden Beschneidungsdebatte ist wohl kaum anders zu bezeichnen als hysterisch. Da beschuldigt die eine Seite die andere der "Vergewaltigung der Religionsfreiheit" und behauptet, die männliche Beschneidung sei mit der weiblichen Genitalverstümmelung vergleichbar (mit einer Praxis also, deren Zweck einzig darin besteht, Frauen jegliche sexuelle Lust zu nehmen, und die ihnen Regelblutung, Sex und Geburt zur Hölle macht); auf der anderen Seite feiert die Reductio ad Hitlerum fröhliche Urständ', wenn Beschneidungskritiker mit hochrangigen Nazis verglichen und ein Beschneidungsverbot als "der Versuch einer neuen Shoah" bezeichnet wird.
Im Falter schrieb die Rechtsanwältin Eva Plaz vergangene Woche, dass die Beschneidung von Buben ohne medizinische Gründe "unrecht" sei und gesetzlich verboten gehöre.
Interessanterweise vertreten dies vor allem Nichtbetroffene, also Christen und Atheisten. Diejenigen, denen in ihrer Kindheit eine rituelle Beschneidung "angetan" wurde, sprechen sich fast durchgehend gegen ein Verbot aus; unter ihnen sind nicht nur religiöse Fanatiker, sondern auch säkulare Juden und Muslime. Aber die Nichtbetroffenen sind überzeugt zu wissen, was das Beste für die anderen ist - für jene, die die Beschneidung sicher nur deshalb verteidigen, weil sie sich ihre eigene tiefe Traumatisierung nicht eingestehen können.
Von dieser eigenartigen Dynamik einmal abgesehen, sind die Einwände gegen die Beschneidung von Kindern durchaus berechtigt. Was die körperlichen, die sexuellen, die psychischen Folgen des Eingriffs betrifft, sind sich selbst Experten nicht einig: Für jede Studie, die der Beschneidung Harmlosigkeit bescheinigt, findet sich auch eine, die von Traumata spricht, und umgekehrt. Dem Argument aber, dass es grundsätzlich sinnvoll wäre, wenn jeder Mann selbst als Erwachsener entscheiden könnte, was mit seinem Penis geschieht, kann man wenig entgegensetzen.
Allerdings werden in der Debatte nicht nur permanent verschiedenste Ebenen - die physische, die psychische, die sexuelle, die religiöse, die moralische, die juristische - gegeneinander aufgerechnet; es wird auch die Frage nach dem Sinn der Beschneidung mit jener nach dem gesetzlichen Beschneidungsverbot vermischt, ganz so, als stünden wir vor der Wahl zwischen einem Beschneidungsverbot und der Zwangsbeschneidung jedes österreichischen Kindes. Dabei kann man durchaus gegen die Beschneidung von Kindern sein, ohne gleich lautstark nach Verboten und Strafen zu rufen.
Denn erstens handelt es sich hier um ein Ritual, das zwei Minderheiten als fundamental für ihre Religionsausübung erachten - ohne das sie, wie sie sagen, ihre Religion nicht leben können. Das kann man gut finden oder nicht, aber man kann es nicht einfach unter den Teppich kehren. Auch ohne in jedem Beschneidungsgegner gleich einen heimlichen Antisemiten und Islamhasser zu orten, muss man anerkennen, dass ein Beschneidungsverbot für Juden und Muslime ein Problem wäre. Eine strafrechtliche Verfolgung der Beschneidung würde dazu führen, dass beide Gruppen sich in Österreich weniger wohl fühlen; es wäre ein Rückschlag für das Zusammenleben.
Zweitens würde ein Verbot nicht zwangsläufig das Ende dieser Praxis bedeuten. Eben weil die Beschneidung für Juden und Muslime so wichtig ist, könnte es vielmehr dazu führen, dass Eltern das Ritual statt im Krankenhaus heimlich von einem Beschneider vornehmen lassen, dafür ins Ausland fahren oder sich von einem befreundeten Arzt die medizinische Notwendigkeit des Eingriffs attestieren lassen; und wie jeder Brauch, den eine Minderheit gegen Widerstände aus der Mehrheit am Leben erhält, könnte die Beschneidung durch das Verbot eine noch größere symbolische Bedeutung für die jüdische und muslimische Identität gewinnen.
Drittens hat bisher noch keiner der Beschneidungsgegner die Frage nach den Strafen bei einem Verstoß gegen ein eventuelles Beschneidungsverbot angesprochen. Will irgendjemand wirklich, dass Eltern, die ihre Söhne trotz Verbots beschneiden lassen, dann monatelang ins Gefängnis wandern? Im Sinne des in dieser Debatte so häufig bemühten Kindeswohls wäre das wohl kaum.
Und viertens leben wir - glücklicherweise - in einem Staat, in dem nicht alles, was verpönt ist, auch strafbar ist.
Um nicht noch einmal die leidigen Tauf- und Ohrloch-Vergleiche zu bemühen: Wir wissen, dass es Kindern körperlich schadet, wenn die Mutter in der Schwangerschaft trinkt, wenn der Vater neben dem Gitterbett raucht. Wir versuchen, die Mutter zu überreden, neun Monate lang auf ihr Bier zu verzichten. Wir versuchen den Vater dazu zu bringen, zum Rauchen vor die Tür zu gehen. Aber wir sperren sie nicht dafür ins Gefängnis.
Jene, denen die Vorhäute jüdischer und muslimischer Buben so am Herzen liegen, können auf verschiedensten Wegen gegen die Beschneidung von Kindern kämpfen: Sie können mit werdenden Eltern über das Thema sprechen. Sie können ihnen - wenn's geht, ohne sie als sadistische Kinderschänder zu brandmarken - erklären, warum sie die Entscheidung ihren Söhnen überlassen sollen. Sie können versuchen, liberale Rabbiner und Imame auf ihre Seite zu ziehen, mit ihnen symbolische Alternativen zur Beschneidung zu suchen.
Aber bei einem derart heiklen Thema gleich nach dem Strafrichter zu rufen, schadet mehr, als es nützt.
Falter, 8.8.2012