Atılgan Bayar über sein neues Buch "islamisches Rom", Kritik an den Eliten, seine Vision über eine islamische und laizistische Türkei und warum er den Begriff "Neo-Osmanismus" als überholt ansieht
Bayar gilt als einer der umstrittensten Autoren und Journalisten der Türkei. Er hatte bereits 1992 den Begriff "Neo-Osmanismus" geprägt. Nun sieht er seinen eigenen Begriff als überholt an und führt eine neue und umstrittene Begrifflichkeit ein: "Islamisches Rom". Als stark polarisierender Journalist ist er einer der eifrigsten Twitterer in der Türkei. So entstand und entwickelte sich die Idee zu seinem Buch auf Twitter, wo er zusammen mit einigen Followern das Grundgerüst für sein vorliegendes Werk erstellte.
Mit dem Buchautor Atılgan Bayar sprach derStandard.at über sein neues Buch "islamisches Rom".
derStandard.at: Sie zeichnen in ihrem neuen Buch „Islamisches Rom" eine Vision der Türkei, die sich nach innen als islamisch-laizistische Republik konsolidiert hat und dieses Modell als Vorbild den Nachbarn vorlebt. Dennoch wird ihr Buch weitestgehend von den Mainstream-Medien ignoriert, warum das?
Atılgan Bayar: Dafür sehe ich zwei Gründe: Zum einen scheinen die türkischen Medien von meinen Thesen etwas paralysiert worden zu sein. Die mediale Elite weiß nicht, wie sie auf meine These reagieren soll, dass etwa mit dem Eintritt der religiösen und konservativen Menschen in die Öffentlichkeit der Laizismus in der Türkei erst gefestigt werden konnte. Das hat die Erklärungsansätze und „Dogmen" der alten Elite ins Leere laufen lassen und da dachten sie sich wohl, am besten gar nicht erst darüber sprechen.
Zum zweiten: Ich gehe sowohl mit der alten, kemalistischen Elite ins Gericht, als auch mit ihren Counterparts aus dem konservativ-islamischen Lager. Das scheint beide Seiten nervös gemacht zu haben. Dennoch ist mein Buch seit Sommer draußen und ging schon in die neunte Auflage, ich denke, das zeigt wie große die Kluft zwischen den Eliten und den Menschen in der Türkei geworden ist.
derStandard.at: Sie haben ja den Begriff des „Neo-Osmanismus" 1992 eingeführt, nun haben sie mit „islamischem Rom" eine neue These vorgeschlagen, warum kein „Neo-Osmanismus" mehr?
Bayar: Nun, der Begriff „Neu-Osmanismus" ist ja tatsächlich an ein Herrscherhaus gebunden. Doch die elementaren Fundamente des Rechtsstaates und auch der Republik (res publica, Anm.) sind ja im antiken Rom gelegt worden. Die Zukunft der türkischen Republik als laizistische Republik soll ja gefestigt und als Idee weitergetragen werden. Daher fand ich es passender unsere Eigenart hinzugebend, ein „islamisches Rom" als Idee vorzugeben als die Neuauflage einer vergangenen Herrscherdynastie zu beschwören.
derStandard.at: Ihr Buch beschreibt eine Türkei, die sich im Sinne eines „islamischen Roms" neuerfinden würde. Eine solche Türkei hätte ihrem Buch zufolge einen „imperialen" Charakter?
Bayar: Ja, imperial, aber nicht imperialistisch. Diese neue Türkei, die in der Tradition des oströmischen Reiches stünde, würde im Grunde eine „Pax Turca" herstellen und ihr Rollenmodell im Sinne von Kultur und Staatspolitik über die eigenen Grenzen hinweg in die ganze Region vermitteln. In dem Maße wie die Diktaturen in der Region nach und nach weniger werden, werden sich die kulturellen, künstlerischen, sozialen und intellektuellen Verbindungen in der Region wieder stärken. Da muss die Türkei als Vorbild und Vorreiter fungieren und das kann sie eben nur, wenn sie sowohl islamisch als auch laizistisch ist, wenn sie also im Inneren einen nachhaltigen Ausgleich gefunden hat.
derStandard.at: Was würden sie Europäern sagen, die sich für ihre „imperiale Vision" nicht erwärmen können?
Bayar: Die Stabilisierung der Region wäre ja im Interesse der Europäer. Man könnte sogar die Region des Nahen und Mittleren Ostens, in denen eine Art „Pax Turcica" etabliert wäre als Fortsatz der europäischen Idee sehen. Es ist immens wichtig, dass sich eine stabile, islamisch-lazistische Republik etabliert und dies als Rollenmodell vorleben kann.
Die europäische Idee und die Zusammenarbeit mit Europa soll ja im Grunde nur auf einer anderen Ebene fortgeführt werden. Die Türkei soll sich nicht integrieren, sondern partizipieren. Die EU-Beitrittsoption wäre nicht vom Tisch, aber ich sehe die Türkei als eigenständigen Akteur, wenn sich die EU damit anfreunden könnte, wäre das gut, aber es würde eben auch eine Zusammenarbeit mit Europa geben können - ohne den EU-Beitritt der Türkei.
derStandard.at: Zum Tag der Republik am 29.10. gab es illegale Demonstrationen der Opposition. Die Bilder von Wasserwerfern und umgestürzten Polizeibarrikaden führten dazu, dass etwa die Ratingagentur Moody's die Gefahr eines Konflikts zwischen Laizisten und Religiösen aufkommen sah. Wie ist es um den Laizismus in der Türkei bestellt?
Bayar: Diese Beurteilung finde ich - mit Verlaub - schwachsinnig. Die Ratingagenturen stehen ohnehin am Pranger und dies zu Recht. Die türkische AKP und damit Ministerpräsident Erdoğan etablieren einen Laizismus, der sich eben nicht über die Anti-Religiösität definiert, sondern in den staatspolitischen Aspekten. Heute kann die Türkei unter Erdoğan der Region (wie etwa der Auftritt Erdoğans nach dem Ende Mubaraks in Ägypten, Anm.) die Vision einer islamisch-laizistischen Republik anbieten. Ich denke, dass der Auftritt Erdoğans in Ägypten, als er den Gelehrten von der islamischen Hochschule Al-Azhar gegenüber stand und den Laizismus pries, ein historischer Moment war.
Das Problem mit den so genannten „Laizisten" in der Türkei ist im Grunde das Aufbegehren der alten Elite, die kaum noch Rückhalt in der Bevölkerung hat, gerade weil sie den Laizismus zu starren Dogmatik und Machtpolitik verkommen ließ. Hier hatte sich eine Form von „Deismus" etabliert, die die Türkei über Jahrzehnte gelähmt hat.
Als die Frauen, die sich für das Kopftuch entschieden haben, in den 90ern ihre Rechte einforderten, machten sie dies ja als mündige Bürgerinnen und im Sinne der Verfassung. Das war im höchsten Maße dem Laizismus an sich förderlich.
derStandard.at: Sie beklagen in ihrem Buch unter anderem, dass die Muslime die erste islamische Gemeinde zur bloßen politischen Idee reduziert haben?
Bayar: Seit den 80ern gibt es in der ganzen islamischen Welt Strömungen, die die erste islamische Gemeinde eben missverstehen oder nicht verstanden haben. Die Islamisten suchten einen politischen Gegenentwurf zum westlichen Modell und nahmen die Gemeinschaft des Propheten Mohammed und luden sie politisch auf. In diesem Modell verkam der Prophet zum gewöhnlichen Politiker. Das ist eine Untat an der Geschichte und auch am Islam.
Der Prophet Mohammed war wie der Name schon sagt, ein Prophet und kein kleiner Staatsmann einer Stammesföderation. Der Prophet gab also keine politische Linie vor oder schlug gar ein Staatsmodell vor. Damit sind auch Versuche so genannte „Scharia-Staaten" zu etablieren, im Grunde reine Anmaßung. Es sind ja nicht Staaten, die sich vor Gott verantworten werden, sondern die jeweiligen Gläubigen und da sehe ich die rechtsstaatliche Demokratie als besseres Modell, um den Menschen - gläubig oder nicht - ein selbstbestmmtes und freies Leben zu ermöglichen.
derStandard.at: Sie schlagen in ihrem Buch vor, die Türken mögen sich nun „kurdisieren"?
Bayar: Im Grunde schlage ich nicht vor, dass sich „die" Türken kurdisieren, weil ich nicht daran glaube, dass der Begriff Türke ein ethnischer ist. Alle Staatsbürger der Türkei sind de jure „Türken", aber in der Türkei gibt es viele Kulturen und Traditionen. Daher sehe ich etwa die kurdische Sprache, Literatur und Kultur als essentiellen Bestandteil des gemeinsamen Ganzen an.
Eine kurdische Ministerpräsidentin mit dem Namen Rojda (kurdischer Vorname, Anm.) und vielleicht sogar bedeckt, das sollte zumindest in den Köpfen der Türken kein Angstszenario sein, sondern vielleicht sogar eine Hoffnung darstellen.
derStandard.at: Der mächtigen Gülen-Bewegung attestieren sie eine zu starke Politisierung, welche Reaktionen aus der Bewegung haben sie bekommen?
Bayar: Ich bin kein Gegner dieser Gruppe, die grundlegende Idee, den starken Fokus auf Bildung und die Unterstützung der Kinder, die sich ansonsten keine Schul- und Weiterbildung in der Türkei leisten könnten, ist eine wichtige Sache.
Meine Kritik richtet sich also nicht gegen die Idee an sich, sondern gegen eben jene Tendenz innerhalb der Bewegung, die eine starke Politisierung herbeigeführt hat. Dadurch besteht die Gefahr, dass diese Gruppierung zum bloßen Akteur in der Tagespolitik wird. Ich habe negative Reaktionen bekommen, aber auch viele positive, die diese Politisierung eben auch ablehnen.
derStandard.at: Sie beschreiben antisemitische Tendenzen unter den konservativen Menschen in der Türkei?
Bayar: Ich beklage diese Tendenzen, da ich diesen Import aus Europa zutiefst ablehne. Ein Muslim kann nicht rassistisch sein, das ist eine Glaubensmaxime des Islam und vor allem der europäische Antisemitismus richtet sich eben auch gegen die Herkunft und „Rasse" der Juden. Doch war der Prophet selbst ein Semit und die erste islamische Gemeinde nicht anti-jüdisch. Die Auseinandersetzung der ersten islamischen Gemeinde mit den jüdischen Stämmen in Medina war eine rein politisch motivierte. Sie führte in der islamischen Gemeinde daher auch nicht zu anti-jüdischen Ressentiments. Auch die aktuelle Krise zwischen der Türkei und Israel (der Mavi Marmara Vorfall, Anm.) soll deshalb nicht religiös oder eben rassistisch aufgeladen werden. Es ist ein politischer Konflikt, dabei soll es belassen werden.
derStandard.at: Sie beschreiben die Besonderheit der Türkei darin, dass sie im Grunde das Produkt einer Hochzeit zwischen Ost und West sei. Können sie das erläutern?
Bayar: Die Türkei ist ohnegleichen, da wir weder „östlich" noch „westlich" sind. Die grundlegenden Konflikte im Land sind ja auch daher jene, die uns unbedingt in eine rein „westliche" oder „östliche" Richtung bringen wollten und wollen. Dies hatte in der Vergangenheit zu einer Art sozio-politischen „Schizophrenie" geführt. Aber die Türkei ist etwa ein Land, das persisch-sprachige Dichter (etwa Rumi, Anm.) zu Nationaldichtern erhoben hat und das nicht als bedrohlich oder befremdlich empfand.
Aus diesen Gründen hat die Türkei ja auch das Potenzial sowohl den Europäern als auch dem islamischen Osten etwas zu geben oder eben etwas zurückzugeben. Die Türkei darf die beiden Quellen aus denen sie schöpft nicht versiegen lassen und muss eben einen Modus vivendi finden, daher habe ich mein Buch geschrieben. Wenn wir einen Modus finden und etablieren, der unsere innere Stabilität herstellt und eben nicht unter Ausschluss eines Erbteils, dann wird die Türkei zum Rollenbild. (Rusen Timur Aksak, derStandard.at, 2.11.2012)
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