Der Krieg ist schneller, als ich schreiben kann. Das türkische Militär ist in kurdisches Siedlungsgebiet in Syrien einmarschiert. Türkische Truppen haben die Grenze überquert. Es ist der dritte völkerrechtswidrige Einmarsch der Türkei in Syrien in den vergangenen drei Jahren. Als die US-Regierung anfing, ihre Truppen aus Syrien abzuziehen, habe ich einen offenen Brief verfasst: "Die Türkei marschiert in Syrien ein - wir alle sagen Nein". Es kam mir hilflos vor, das zu schreiben. Mindestens genauso hilflos wäre es mir vorgekommen, das nicht zu schreiben.
In dem offenen Brief wurde gefordert: "ein Rückzug der türkischen Armee aus Syrien, ein sofortiger Exportstopp für Kriegswaffen in die Türkei, eine friedliche diplomatische Lösung des Krieges in Syrien und somit die Bekämpfung von Fluchtursachen". Mehr als hundert namhafte Persönlichkeiten, darunter Margarete Stokowski, Cem Özdemir, Sibylle Berg und Volker Beck haben ihn unterzeichnet. Im Laufe des Tages kamen weitere Hunderte dazu, darunter die Künstlerin Hito Steyerl, die Autorin Nora Bossong, der Künstler Clemens von Wedemeyer. Ihr Nein ist eine Forderung an die Bundesregierung und an die EU, Nein zu sagen. Eine Forderung, nicht zuzusehen, und alle möglichen diplomatischen, wirtschaftlichen und politischen Druckmittel einzusetzen, um dieses Nein zu unterstreichen und eine Katastrophe zu verhindern.
In Nordsyrien leben vier Millionen Menschen, darunter viele religiöse sowie ethnische Minderheiten. Ich kenne die Region aus meiner Kindheit. Mein Vater ist dort geboren und aufgewachsen, meine Großeltern haben dort gelebt.
Meine Familie floh wie viele andere
Das kurdische Siedlungsgebiet, das ich aus den Sommerferien meiner Kindheit kenne, sah so aus: Wir kauften in Qamishli bei einer jüdischen Familie Gewürze, der beste Freund meines Großvaters war Armenier, kam zum Tee, und abends waren wir zu Gast bei einer sunnitischen Familie, die uns zum Essen einlud. Dann kam die Revolution gegen das Assad-Regime, und seitdem bin ich nicht mehr in dort gewesen. Aus der Revolution gegen das Regime wurde ein Krieg des Regimes gegen die Bevölkerung. 2014 kam der IS. Meine Familie, jesidische Kurden, floh wie viele andere Mitglieder religiöser Minderheiten.
Als die Türkei vergangenes Jahr in Afrin einmarschierte, kamen sie mit islamistischen Söldnern. Das Leben dort hat sich seit dem Einmarsch grundlegend verändert. Denn die islamistischen Brigaden setzten ihre Auslegung der Scharia durch: Frauen dürfen nur noch in Begleitung eines Mannes und verschleiert das Haus verlassen, jesidische Friedhöfe und Schreine wurden zerstört.
Befreundete jesidische Familien berichteten, es habe Folter und Vergewaltigungen gegeben. An den Schulen wurde kein Kurdisch mehr, sondern Türkisch unterrichtet. Araber und Turkmenen aus anderen Teilen Syriens wurden angesiedelt, geflohenen Kurden die Rückkehr in die Stadt verwehrt, ihre Häuser und Geschäfte beschlagnahmt.
Es darf kein "zweites Afrin" geben
Wenn ich jetzt über den Einmarsch der türkischen Truppen in kurdisches Siedlungsgebiet schreibe, kann ich nur das herunterbeten, was vielfach gesagt wird: Die Türkei ist Nato-Mitglied. Mit einem Nato-Mitglied kann man verhandeln, ein Nato-Mitglied kann man politisch, diplomatisch und wirtschaftlich unter Druck setzten. Es gibt einen Handlungsspielraum. Dieser Handlungsspielraum muss nur genutzt werden.
Ich kann auch herunterbeten, welche Folgen der Einmarsch in Syrien haben wird: Die Gefängnisse dort sind voll mit IS-Terroristen. Bei einem Einmarsch kann es sein, dass die kurdische Verwaltung die Gefängnisse nicht mehr halten kann und IS-Kämpfer freikommen. Die SDF, die an der Seite der USA gegen den IS gekämpft hat, wird nun auch noch von türkischer Seite angegriffen. Das kann dazu führen, dass der IS wieder erstarkt und Gebiete zurückgewinnt. Der Einmarsch der Türkei spielt also dem IS in die Hände. Erdogan hat außerdem angekündigt, syrische Kriegsflüchtlinge dort anzusiedeln. Den Kurd*innen droht Vertreibung und ethnische Säuberung. Die Region wird also weiter destabilisiert werden.
Fotos wie unter verdunkelten Milchglasscheiben
Nun hat aber, während ich noch schreibe, der Krieg schon begonnen. Ich sehe Reihen von Panzerkolonnen des türkischen Militärs und ihrer Söldner. Ich lese, dass der IS SDF-Stellungen in Rakka angegriffen hat. Mein Vater ruft an und berichtet, sie greifen Ras al Ein (Serê Kaniyê) an. "Kannst du dich noch erinnern, du warst auch in Ras al Ein." Ich sehe Fotos von Menschen, die die Stadt verlassen, auf Autos, zu Fuß. Eine halbe Stunde nachdem ich über den jüdischen Gewürzhändler, bei dem wir immer in Qamishli einkaufen waren, geschrieben habe, sehe ich Videos von Luftangriffen auf die Stadt. Ich höre in den Videos Menschen schreien, sehe auf Fotos Rauchwolken in den Himmel steigen, brennende Häuser und Verletzte, die blutüberströmt auf Krankenhausbetten liegen.
Es sind Fotos wie unter verdunkelten Milchglasscheiben. Auf denen steht: "Dieses Foto zeigt möglicherweise Gewaltdarstellungen oder explizite Inhalte." Fotos, bei denen man erst auf "Foto anzeigen" klicken muss, um sie zu sehen. Fotos, wie sie vergangenes Jahr beim Einmarsch in Afrin geteilt wurden. Fotos, an die ich mich nicht gewöhnen kann, auch nach dem Tausendsten nicht, die mich hilflos zurücklassen. Genauso hilflos fühlt es sich an, meinen Vater zu fragen, ob unsere entfernten Verwandten, die noch dort sind, sicher sind. "Hast du was von ihnen gehört? Weißt du, wo sie sind?" Die Fragen an Freund*innen, wie es ihren Familien geht. "Sind sie sicher?" Und hilflos wieder, wenn sie antworten: "Nein, sind sie nicht."
Mein Text ist immer noch nicht zu Ende, da schickt meine Mutter ein Video, von den Luftangriffen auf Tirbespi. Tirbespi ist eine Kleinstadt. Ich kenne Tirbespi sehr gut. Ich bin in meiner Kindheit so oft dagewesen, dass ich die Besuche nicht mehr zählen kann. Viele Verwandte von uns haben in Tirbespi gelebt. Mein Vater ist in Tirbespi zur Schule gegangen. Meine Schwester und ich haben in Tirbespi Kleider bekommen vom Schneider, kurdische Kleider mit grünen und blauen Pailletten. Ich kann mich an die Straßen erinnern, an die Hühner in den Höfen, die Wäscheleinen auf den Dächern, an Wohnzimmer.
Hilflosigkeit ist keine Ohnmacht
Tirbespi ist nicht weit von unserem Dorf. Wenn sie Tirbespi beschießen, beschießen sie auch unser Dorf. Ich denke an die Menschen, die immer noch in Tirbespi sind, und die Menschen, die immer noch in unserem Dorf sind. Ich denke, dass die Leute in unserem Dorf die Raketen hören müssen, wenn sie nicht selbst schon beschossen werden. Der Krieg wird weitergehen, wenn er nicht gestoppt wird. Sie werden wieder einmal die Toten zählen. Wir werden zusehen, wieder einmal.
Schreiben ist ein hilfloser Versuch, Nein zu sagen. Aber diese Hilflosigkeit ist nicht ohnmächtig. Diese Hilflosigkeit kann politischen Druck erzeugen, wenn sie zur Sprache gebracht wird. Indem sie von vielen Menschen geteilt wird. Indem die Politik darauf hört, nicht nur Nein sagt, sondern auch handelt.
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