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Spieler unter Strom

Am Ende waren die Finger von Timo „Spiidi“ Richter und die seiner vier Mitstreitern vom Team Sprout zu langsam. Gerade waren sie noch als Polizeispezialeinheit auf Terroristenjagd durch eine digitale Wüstenstadt gezogen, das Gewehr im virtuellen Anschlag, den Finger auf der realen Maus. Doch die Konkurrenten vom Team „expert eSport“ schaltete einen nach dem anderen mit Gewehr, Pistole oder per Granate aus. Als der letzte Sprout-Charakter fällt, springen die Spieler der gegnerischen Mannschaft unter lautem Applaus auf, während Timo Richter mit hängendem Kopf vor seinem Bildschirm sitzen bleibt. „Wir haben verdient verloren“, sagt der 23-Jährige später, als sich sein Team nach der Halbfinal-Niederlage im Backstage-Raum der EWE-Arena zu Oldenburg versammelt. „Das muss man ehrlicherweise zugeben.“


Während Richter und seine Kameraden hinter der Bühne enttäuscht über die Gründe für die Niederlage diskutieren, herrscht in der großen Halle ausgelassene Public-Viewing-Atmosphäre. Vor rund 1300 Fans traten dort bei den ESL-Wintermeisterschaften die besten deutschen Teams in den Computerspielen „CS:GO“ und „League of Legends“ gegeneinander an. In Fünfer-Teams, jeder mit einem Computer vor sich. Über den Köpfen der Spieler können die Fans die Action in der simulierten Welt auf einer riesigen Leinwand verfolgen. Mal rennen dort die Charaktere hektisch durch digitale Gassen, mal lauern sie hinter einer Ecke, um sich dann unter dem Jubel des Publikums in den nächsten Schusswechsel zu stürzen. Die Kommentatoren mit den Spitznamen „Knochen“ und „V3nom“ analysieren dabei live die Taktik der Teams. „ScrunK wirft die Nade und saved den B-Spot, muss aber dem Molli ausweichen“, beschreibt Knochen die Vorgänge auf dem Bildschirm und ruft dann entzückt ins Mikrofon: „Ja, sind die denn komplett verrückt?!“


Die Frage bekommt die eSport-Szene immer wieder gestellt. eSports – kurz für elektronischer Sport – ist der Name für das kompetitive Spielen am Computer zwischen Teams und Einzelspielern. Die Spiele reichen von Sportsimulationen über Ego-Shooter bis hin zu sogenannten Echtzeit-Strategiespielen. Vor wenigen Jahren noch galten Gamer als uncoole Nerds und tumbe Stubenhocker. Heute verfolgen hunderte Millionen Menschen zuhause am Computer, wie sich die eSports-Stars Duelle mit Maus und Tastatur liefern. Oder sie strömen zu Tausenden zu Live-Events in riesigen Stadien: Zu den Intel Extreme Masters kamen 2017 rund 173.000 Besucher nach Katowice. Über 46 Millionen Menschen in aller Welt verfolgten das Event online. Das bestdotierte Turnier ist The International, ein Turnier des Spiels „Dota 2“, bei dem das Gewinnerteam 2018 über 9,5 Millionen Euro mit nach Hause nahm. Zum Vergleich: Tennisstar Novak Djokovic trug sein Wimbledonsieg 2018 ein Preisgeld von rund 2,5 Millionen Euro ein.


Nach einer Studie der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft PwC hat eSports 2016 weltweit rund 323 Millionen Zuschauer erreicht und setzte 2017 rund 557 Millionen Euro um, davon 51 Millionen Euro in Deutschland. Die Bundesrepublik ist nach den USA, China und Südkorea der viertgrößte eSports-Markt der Welt. PwC rechnet damit, dass der Umsatz hierzulande bis 2022 auf 130 Millionen Euro steigt und damit die deutschen Bundesligen im Handball-, Basketball- und Eishockey übertrumpft.


eSports hat seinen Ursprung im Kinderzimmer. Und es ging zunächst nicht ums große Geld, sondern ganz einfach: um den Spaß am Spiel. „Ich habe als Kind angefangen und seitdem immer gerne gespielt“ erinnert sich Timo Richter. Irgendwann habe ihm dann sein Cousin von Online-Turnieren erzählt, wo sich die Spieler messen. 2012 heuerte er erstmals bei einem Team an und begann, größere Turniere zu spielen. Heute steht er auf Platz 912 der Weltrangliste und hat in 88 Turnieren schon über 100.000 Euro eingespielt. Die meisten eSportler spielen neben ihrer Arbeit oder ihrem Studium. Den Profis bleibt dafür keine aber keine Zeit: „Wir trainieren fünf Tage die Woche, jeweils sechs bis acht Stunden lang, und bekommen dafür ein Festgehalt“, erzählt Richter.


Dass das überhaupt geht, liegt an dem enormen Popularitäts-Wachstum, den die Szene momentan erlebt. „Als ich 2013 mit dem eSport ernsthaft anfing, ging die Entwicklung des Sports gerade so richtig los“ erinnert sich Richter. Trotzdem habe die Szene nichts von dem verloren, was Richter schätzt. „Hier kommen Menschen aus der ganzen Welt zusammen.“


Tatsächlich sind eSportler und ihre Fans ein buntes Volk. Das Klischee vom Computerspieler als tageslichtscheuem Hoodie-Träger kann man getrost vergessen. eSportler sind in der Regel junge Studierende und Berufseinsteiger. Frauen und Männer zwischen 15 und 35 Jahren, mit überdurchschnittlichem Bildungsniveau und Interesse an neuen Medien und Technik.


Und ihre Zahl wächst beständig. Dafür mitverantwortlich ist Ralf Reichert. Der 44-Jährige ist Gründer und Geschäftsführer des weltweit größten eSports-Veranstalters ESL. „Über kurz oder lang führt kein Weg an eSports vorbei“, sagt Reichert. „Das liegt allein schon am demografischen Wandel.“ Die Digital Natives, die mit Computerspielen groß geworden sind, haben inzwischen die finanziellen Mittel nicht nur für teure Gaming-Computer, sondern auch um eSports wirtschaftlich erfolgreich zu machen.

Zudem hat das Internet das Medienverhalten verändert. Zwar überträgt Pro7 in seinen Spartensendern regelmäßig eSports-Events. Und Sport1 startete im Januar sogar einen eSports-Sender. Aber Streaming-Plattformen wie Twitch erreichen wesentlich mehr Zuschauer. Über 15 Millionen Millionen Besuche verzeichnet Twitch täglich. „eSports ist ein Kind des Internets und wird es bleiben“, ist Reichert sicher.


Mittlerweile sind auch viele klassische Sportvereine auf den eSports-Zug aufgesprungen. Schalke 04 beispielsweise hat 2016 erstmals groß in den digitalen Sport investiert und eine eigene Abteilung mit Teams in den Spielen FIFA und League of Legends geschaffen. „Damals hat der Verein überlegt, wie sich die Umsätze abseits des Kerngeschäfts Fußball steigern lassen, um die wirtschaftliche Unabhängigkeit von einer Sportart zu verkleinern“, erzählt Tim Reichert, Chief Gaming Officer bei Schalke 04 – und Bruder von ESL-Gründer Ralf Reichert. Weil die Sportart in den für Schalke interessanten Märkten China und USA sehr populär sei, fiel die Wahl auf eSports. „Keine andere Sportart weltweit erreicht so viele Menschen.“


Und nirgendwo sonst sind sich Sportler und Fans so nahe wie hier: Per Livechat können sie sich direkt austauschen. Im Positiven wie im Negativen: Auch hier wird gerne gepöbelt. Vor allem Frauen bekommen das zu spüren. „Wenn man sich beim Onlinespielen als Frau outet, wird man plötzlich ganz anders wahrgenommen“, sagt Yvonne Scheer. Die 28-jährige, die hauptberuflich für einen Energieversorger arbeitet, hat als „MissMadHat“ mehrfach die österreichische Staatsmeisterschaft im Shooter „Call of Duty“ gewonnen und ist seit 2018 ehrenamtlich Gender-Beauftragte beim eSport-Verband Österreich. Dann kämen oft die üblichen Klischees und Vorurteile auf wie: Wenn man als Frau gut spielt, müsse man hässlich sein. Die meisten hören deshalb schnell wieder mit dem Spielen auf. Folge: Es gibt zwar viele weibliche eSports-Fans, aber nur ganz wenige Frauen in den professionellen Teams.


Mehr Frauen würden sicher auch für eine höhere Anerkennung der eSports im Mainstream sorgen. Doch dort wird immer noch die Grundsatzfrage gestellt: Ist Computerspielen überhaupt Sport? Der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) hat sich bereits festgelegt: „eGaming passt nicht zu dem, was den gemeinwohlorientierten organisierten Sport prägt.“


 Ralf Reichert kann das nicht nachvollziehen: „Bei Sport geht es doch nicht nur um körperliche, sondern auch um mentale Fähigkeiten – die sind bei eSports besonders gefragt.“ Die Spieler benötigen Reaktionsschnelligkeit, taktische Finesse und konstant hohe Konzentration.


Auch bei „Spiidi“ Richter sorgt das Statement des DOSB nur für Kopfschütteln. „Solche Aussagen können nur Menschen treffen, die sich nie ernsthaft mit eSports beschäftigt haben.“ Der demographische Wandel und die rasante Entwicklung des Marktes, da ist er sich sicher, werde schon bald für ein Umdenken sorgen. Seine Niederlage hat er da schon längst abgehackt, in Gedanken ist er bereits beim nächsten Turnier. So schnell gibt ein eSportler nicht auf.